Im Brennpunkt: Süsses Gift Zucker? – Immer mehr Länder erheben Steuern auf gezuckerte Softdrinks, um Diabetes- und Adipositas-Epidemien einzudämmen, Westschweizer Kantone wollen mitziehen

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Zuviel Zucker ist heute immer noch in vielen Lebensmitteln enthalten und macht krank. Bild: Fotolia

Die WHO schlug 2016 die Alarmglocke und rät zu einer 20%igen „Sünden“-Steuer auf gezuckerte Getränke. In den USA, Mexiko, Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern ist 70% und mehr der Bevölkerung übergewichtig und davon mehr als die Hälfte fettleibig. Die Kosten für die Gesundheitssysteme steigen exorbitant!

Nirgends sprechen die Zahlen eine deutlichere Sprache als im Fall Mexiko. Die Bevölkerung beträgt 122 Mio. Einwohner, wovon 33% Adipositas-Fälle sind und weitere 37% übergewichtig. Inzwischen, d.h. 2014, leiden volle 14% der Bevölkerung an Diabetes. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Krankheit wenig verbreitet.

Wohlstand und Zivilisationskrankheiten

Diese Entwicklungen sind in erster Linie auf die veränderten Lebens- und Ernährungsgewohnheiten zurückzuführen. Die gehen mit gestiegenem Wohlstand und verbesserten Einkommensverhältnissen einher, aber auch die allgegenwärtige Verfügbarkeit von gekühlten Limonaden und Fast Food spielt eine Rolle. Durchschnittlich konsumieren die Mexikaner 163 Liter Soft Drinks p.a. – oder fast einen halben Liter täglich. In der Schweiz, zum Vergleich, sind es nach jahrelangen Rückgängen nur noch weniger als 70 Liter p.a.

Softdrink-Steuer in Mexiko senkt Verbrauch

Die exponentiell steigenden Kosten für das Gesundheitssystem bewegen sich im Multimilliardenbereich. 2014 führte Mexiko als Pionier gegen den erbitterten Widerstand der Getränkeindustrie und ihrer Lobby eine geringe Steuer auf gezuckerte Softdrinks ein, um durch den höheren Preis die Konsumenten zu gesünderen Alternativen wie Wasser zu bewegen. Auch im Parlament gab es hitzige Debatten, doch Präsident Nieto setzte sich durch. Sein Vorgänger Fox Vicente war vor seiner Präsidentschaft Länderchef von Coca-Cola in Mexiko gewesen! Entgegen den Argumenten der Industrie und ihrer Lobby hat die Einführung der Steuer den Verbrauch doch beachtlich gesenkt: im ersten Jahr um 5.5%, im zweiten um 9.7%. Die Steuereinnahmen für Mexico belaufen sich auf rund 1.1 Mrd. USD.

Neue Steuerquelle in Frankreich, Belgien und Finnland

In Europa haben bislang Frankreich, Belgien und Finnland eine solche „Sin“-Tax eingeführt. Die Steuereinnahmen sind mit 336 Mio. USD, 111 Mio. USD und 100 Mio. USD überschaubar, die Effektivität ist abgesehen von einem einmaligen Basis-Effekt bisher nicht nachhaltig erkennbar. Kritiker führen dies darauf zurück, dass der Steuersatz zu niedrig und eine abschreckende Wirkung erst bei 20% oder mehr, wie von der WHO empfohlen, zu erwarten sei. Dennoch werden auch die Briten ab April 2018 eine Steuer auf gezuckerte Softdrinks erheben – mit einem höheren Steuersatz. Die Steuereinnahmen werden mit 863 Mio. Pfund errechnet.

Berkeley erzielt im ersten Steuerjahr 9.6% Konsumrückgang

In den USA brachte Michael Bloomberg das Thema schon vor längerer Zeit, als er Bürgermeister von New York war, auf. Inzwischen liegen erste Erfahrungen aus Berkeley, California, vor, wo 2016 eine 10%ige Steuer auf „carbonated soft drinks“ erhoben wurde. Im ersten vollen Jahr ging der entsprechende Absatz um 9.6% zurück. Seit Januar 2017 erhebt auch Philadelphia eine solche Steuer, allerdings mit einem Satz von 15%. Während in Berkeley hauptsächlich gut situierte Amerikaner wohnen, gilt Philadelphia als reich an Armen. Die Konsumgewohnheiten und ihre Veränderungen unter Aspekten der Gesundheit und auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse korrelieren stark mit dem Bildungs- und Einkommensniveau.

Insgesamt 19 Länder haben nach einer aktuellen Studie eine Steuer auf gezuckerte Softdrinks eingeführt, weitere 20 planen es. Daher werden die Modelle und Steuersätze sowie die entsprechenden Effekte auf den Verbrauch mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt.

Schweiz im Adipositas-Vergleich

Auch in der Schweiz wird die Diskussion geführt. Hier liegt die Adipositas-Rate nach der Statistik 2014 der WHO bei 19.4%, eher im hinteren Drittel unter den vergleichbaren Ländern, z.B. 28%-30% in UK, Kanada, Australien, Neuseeland, 23.9% in Frankreich und 20.1% in Deutschland. Die grosse Ausnahme ist Japan mit lediglich 3.3% als Folge der gesunden und ausgewogenen Ernährung. Dennoch ist der Anteil in der Schweiz über die letzten 20 Jahre kontinuierlich um rund 20% gestiegen, mit all den Begleiterscheinungen. So sind beispielsweise im Kanton Zürich nur noch 54.1% der Männer wehrtauglich.

Westschweizer Kantone preschen vor

Zwar ist in den Medien zu lesen, dass die Mehrheit der Schweizer eine Steuer auf gezuckerte Limonaden ablehnt, dennoch sind in den Westschweizer Kantonen, namentlich Waadt und Neuenburg, fortgeschrittene Bestrebungen im Gange, eine Limonadensteuer auf kantonaler Ebene einzuführen. Als Begründungen werden Zahngesundheit bzw. Kosten der -behandlungen sowie Adipositas- und Diabetesprävention angeführt. Dadurch dürfte die Diskussion auf Bundesebene wieder an Fahrt gewinnen. Das Ende ist offen. Neue Steuern sind unpopulär, und niemand mag sie, doch die Kosten für die explodierende Anzahl von entsprechenden Krankheitsfällen, die häufig in Arbeitsunfähigkeit münden, liegen bei einer vernünftigen Vollkostenrechnung bei einem Vielfachen. Zudem werden die Kosten, wie heutzutage üblich, den zukünftigen Generationen aufgebürdet.

Suche nach Zuckeralternativen hält an – Evolva kooperiert mit Cargill

Der Aktienkurs von Evolva wird getrieben von der Hoffnung auf einen Erfolg des Zuckerersatzstoffes Stevia. Chart: www.moneynet,ch

Übersetzt für die Börse bringt der Trend gegen überbordenden Zuckerkonsum und die schädlichen Folgen für die Gesundheit diverse Implikationen. Für grosse Hersteller wie Coca-Cola und Pepsi Cola kommt abgesehen von der Sättigung in den etablierten Märkten mit der Gesundheitsdiskussion, ähnlich wie schon zuvor bei Tabak und Alkohol, plötzlich ein mächtiger Gegenwind auf, der noch stark gewinnen kann und wohl auch wird. Sämtliche Versuche, Zucker durch Aspartam, Saccharin oder Stevia in den Limonaden zu ersetzen, brachten nicht die gewünschten Erfolge. Die Innovationen ohne Zucker schmecken nicht und erreichen nur niedrige einstellige Prozentsätze am Gesamtgetränkeumsatz. Die Suche nach Alternativen für Zucker läuft auf Hochtouren. Einer der Hoffnungsträger ist das an der SIX kotierte Schweizer Biotech-Unternehmen Evolva, ein Frontrunner im Wettrennen um die erfolgreiche Kommerzialisierung von mittels Hefen produzierten Stevia-Strängen, die um die bitteren Komponenten bereinigt sind. Zusammen mit dem Agrar-Multi Cargill soll in dem Joint Venture 2018 das Produkt „EverSweet“ am Markt eingeführt werden.

Gegentrend – naturbelassene Säfte wie Biotta

Die Thurella-Tochter Biotta ist mit natürlichen Fruchtsäften erfolgreich. Chart: www.otc-x.ch

Der Gegentrend dazu ist der Verzicht auf Zuckerbeigaben und die gezielte Vermarktung der Frische der Produkte, wie es die im OTC-X Markt der BEKB gehandelte Thurella mit ihrer bekannten Marke Biotta praktiziert. Das traditionsreiche Bio-Unternehmen produziert seit 60 Jahren naturbelassene Säfte und expandiert in den letzten Jahren verstärkt international. Allein in Shanghai werden an 300 Verkaufsstellen gekühlte Biotta-Frischgetränke angeboten.

Noch ein Gegentrend – Wasser

Ein anderer Gegentrend wird sein, dass Wasserabfüller und -distributoren mehr Marktanteile im Bereich alkoholfreie Getränke gewinnen werden. In diesem Segment ist der Schweizer Multi Nestlé bestens positioniert. Allerdings ist das Wassergeschäft kontrovers. Es gibt viele stichhaltige Gründe dagegen und mittlerweile viele Erfahrungen, die weit überwiegend auch dagegen sprechen. Anders als in der Schweiz ist das Wasser aus den öffentlichen Leitungssystemen, sofern solche überhaupt existieren, in vielen Ländern gar nicht trinkbar. Wenn dann durch Privatisierungsprojekte wie beispielsweise in Brasilien und Südafrika die überwiegend arme Bevölkerung keinen Zugang mehr zu sauberem Wasser hat und nur noch das abgefüllte Wasser zu marktüblichen Preisen erwerben kann, ist das grundlegende Menschenrecht auf Wasser verletzt. Der Film „Bottled Life“ zeigt die Konsequenzen und Ursachen. Die Verantwortung für zahlreiche solche Szenarien tragen u.a. UN und Weltbank mit ihren undifferenzierten Forderungen nach Privatisierung sowie entsprechende Auflagen und die oft korrupten Politiker, die es dann umsetzen.

Vom Zucker zum Honig?

Heute ist Zucker eine selbstverständliche Beigabe zu Getränken, Mixturen, Gebäck und vielen Speisen, die über die weitaus längste Zeit der Menschheitsgeschichte ohne Zucker auskommen mussten. Tatsächlich reicht zwar die Kulturgeschichte des Zuckers rund 10’000 Jahre zurück, doch wurde er erst ab dem 19. Jahrhundert nach und nach für breitere Bevölkerungskreise in den Ländern der industriellen Revolution und dann der ganzen Welt verfügbar. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Zucker in vielen europäischen Ländern ohne Kolonien oft teuer oder gar nicht erst verfügbar. Wenn überhaupt gesüsst wurde, dann bedeutete das über mehr als 99% der Zeit der Menschheitsgeschichte, dass Honig verwendet wurde. Der könnte allerdings bald Mangelware werden, wenn das von Milben und Chemikalien verursachte Bienensterben sich im Tempo der letzten Jahre fortsetzt. Der Film „More than Honey“ des Schweizer Regisseurs Markus Imhoof von 2012 dokumentiert den Systemkollaps. In Neuseeland wurden erste Fälle von Raub von Bienenstöcken bekannt, ebenfalls in Kalifornien. Zur Bestäubung der Mandeln in Kalifornien werden schon lange ganze Flugzeugladungen von Bienenstöcken aus Australien eingeflogen, weil die eigenen Bestände durch angeblich harmlose Neonicotinoide nahezu ausgerottet sind. Diese sollen trotz aller Widerstände in der Industrie zumindest in der EU nun doch verboten werden.

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