Medizintechnik: Wie Übernahmen, IPOs und Spin-offs 2017 für Spannung an der Börse sorgen

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Wachstumsbranche Medtech: Seit 2010 wächst die Medizintechnikbranche um 5.9% p.a. Bild: Fotolia

Der Gesundheitssektor wächst seit langem deutlich stärker als die Gesamtwirtschaft. Das betrifft primär Pharma und Biotechnologie, doch auch die oft übersehene Medizintechnik rückt immer stärker in den Fokus der Investoren.

In der Schweiz beträgt die jährliche Zuwachsrate der recht heterogenen Medizintechnikbranche seit 2010 stabile 5.9%. Das BIP wuchs demgegenüber 2014 nur um 1.1% und schrumpfte 2015 sogar um 0.5%. Für 2017 liegen die Erwartungen der Branche bei beschleunigten 8.6% Wachstum.

Globales Medtech-Zentrum Schweiz

Die Industrie ist hochprofitabel und teilt sich in einige wenige grosse Konzerne wie Johnson&Johnson (J&J), Medtronic und Stryker einerseits sowie eine Vielzahl von KMU andererseits auf. Sie sind allesamt äusserst innovativ und wenden bis zu 30% ihres Umsatzes für Forschung & Entwicklung (F&E) auf. Die Schweiz ist ein globales Zentrum für die Industrie. Alle internationalen Konzerne sind hierzulande prominent vertreten. Der grösste Arbeitgeber der Industrie in der Schweiz ist bspw. J&J mit 4’150 Beschäftigten, noch vor Roche Diagnostics mit 2’370 Mitarbeitern. Auf Rang 4 folgt schon Sonova, der Weltmarktführer bei Hörgeräten, mit 1’200; Ypsomed liegt mit knapp über 800 Beschäftigten auf Rang 9.

Insgesamt beschäftigt der Sektor nach Erhebungen des Schweizer Medtech-Dachverbandes FASMED fast 55’000 Mitarbeitende in 1’350 Unternehmen. Der Umsatz lag zuletzt bei 14.1 Mrd. CHF, wovon 10.6 Mrd. CHF in den Export gingen. Die Branche erzielt rund 16% des Schweizer Handelsbilanzüberschusses.

Beste Standortbedingungen

Die Industrie findet, wie die aktuelle Studie des Medtech Clusters dokumentiert, in der Schweiz alles, was sie an Voraussetzungen braucht: erstklassige Universitäten, bestens ausgebildete Mitarbeitende, ein historisch gewachsenes Ökosystem aus Forschung, Innovationsförderung und Kooperation mit der Privatwirtschaft sowie, nicht zuletzt, Unternehmer und Kapital.

Märkte im Wandel

Nicht minder wichtig ist der Zugang zu den wichtigsten und wachstumsstärksten Märkten weltweit. So gehen wertmässig 45% der Exporte in die USA und Deutschland. Die europäische Krise hat jedoch Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und die Niederlande an Bedeutung als Exportdestination beträchtlich verlieren lassen, daher wird gezielt an neuen Märkten wie Japan, China, Russland, Brasilien und Iran gearbeitet.

Zivilisationskrankheiten treiben Wachstum

Überall in der Welt, wo im Zuge der rapiden wirtschaftlichen Entwicklungen während der letzten Jahrzehnte eine kaufkräftige und zunehmend wohlhabende Mittelschicht entstanden ist, sind Zivilisationskrankheiten wie in den westlichen Ländern auf dem Vormarsch, was überwiegend auf Bewegungsmangel, Stress und falsche Ernährung zurückzuführen ist. Die Folgen sind steil ansteigende Kurven bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Alzheimer und Krebs.

Der Bedarf an Rollstühlen, Prothesen, Zahnimplantaten, medizinischen Verbrauchsgütern, Klinik- und Laborbedarf, Tomographen, Massenspektrometern, Selbstmedikation und -monitoring Geräten ist ungebrochen. In den USA fallen bereits 40% der Bevölkerung unter die Kategorie Fettleibigkeit (BMI 30 oder mehr). Qatar weist mit 24% Diabetikern in der Bevölkerung weltweit die höchste Quote auf. Viele Krankheitsbilder, die in Indien, China oder Mexiko bisher kaum bekannt waren, treten dort inzwischen auch bei jungen Menschen gehäuft auf.

Steigende Lebenserwartung – noch ein Wachstumstreiber

Darüber hinaus profitiert die Branche von der immer höheren Lebenserwartung, da im Alter vielfach die Beschwerden zunehmen und aufgrund des technologischen Fortschritts, der verbesserten Diagnostik und ausgeweiteter Gesundheitssysteme auch immer umfassender behandelt werden können.

Konvergenzen und Querschnittstechnologien

Auch bei globaler Betrachtung zeichnet sich die Medizintechnik-Industrie durch stabile und hohe Wachstumsraten aus, die sich bei 5 bis 6% p.a. bewegen. Das klingt vielleicht weniger spektakulär als die weit höheren möglichen Wachstumsraten in der Biotechnologie oder der Digitalwirtschaft. Allerdings ist eine solche Betrachtung gar nicht mehr zeitgemäss, da überall Konvergenzprozesse die ehemaligen Grenzen verwischen. So sagen 91% der Unternehmen im Fachverband Medizintechnik, dass Digitalisierung eine Chance ist. Zwar werden die Potenziale überwiegend noch nicht wirklich gezielt entwickelt, doch der Kostendruck im Gesundheitswesen verlangt es. Bei Gewebe-, Knochen- und Organrekonstruktion arbeiten Biotechnologie und Medizintechnik schon lange Hand in Hand an Lösungen, die dabei sind, die bisherigen Grenzen des Machbaren revolutionär zu erweitern. Informationstechnologien haben schon lange Einzug in die Diagnostik und Therapie gefunden. So können heute schon Handprothesen durch Gedankensteuerung, dank Fortschritten in der Neurologie, fast feinmotorisch bewegt werden.

Kostensenkungspotenziale

Wo immer möglich werden kostengünstige oder -reduzierende Massnahmen von Krankenkassen, Kliniken und auch Patienten bevorzugt. Die beträchtlichen Kosten der medizinischen Diabetikerversorgung erfahren beispielsweise durch die innovativen Selbstmedikationsprodukte von Ypsomed eine signifikante Reduktion, da sich der Patient selbst oder mit Hilfe von Angehörigen sicher und unkompliziert Infusionen und Injektionen verabreichen kann – der früher zwingende Besuch von Klinik oder Arzt entfällt.

Life Sciences werden wichtigste Industrie

Global beträgt der Umsatz der Medizintechnik Industrie rund 450 Mrd. USD. Führende Wissenschaftler sagen schon heute, dass aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des technologischen Fortschritts unsere Lebenserwartung in absehbarer Zeit auf weit über 100 Jahre ansteigen wird, vielleicht sogar auf 200 Jahre. Zentral sind die Abschaltung der Alterungsgene sowie der Ersatz verschlissener Körperbestandteile. Vor nicht gar zu langer Zeit lag die Lebenserwartung in Europa noch bei kaum 40 Jahren. Damit ist absehbar, dass die Life Sciences und insbesondere auch die Medizintechnik in ein neues Stadium eintreten, in dem das Leben selbst im Mittelpunkt steht. Die Umsätze dürften langfristig deutlich über denen anderer Industrien und der Gesamtwirtschaft liegen. Denn fast jeder will länger leben!

Die Lebenserwartung in den EU-28-Ländern ist weiter gestiegen. Quelle: Eurostat
Die Lebenserwartung in den EU-28-Ländern ist weiter gestiegen. Quelle: Eurostat

Von der Randaktivität zum Medtech Pure Play

Das haben viele Konzerne schon seit langem erkannt. Während für Philips, General Electric, Siemens und J&J das Medtechgeschäft immer profitabel und interessant war und blieb, so stellte es doch stets nur ein Randgebiet dar. Das hat sich rapide geändert. Nach zahlreichen Übernahmen in dem Sektor, u.a. Synthes in der Schweiz, ist Medtech ein gewichtiges Standbein für J&J, den grössten Gesundheitskonzern der Welt, geworden. Philips hat alle Aktivitäten ausser der Medizintechnik veräussert und ist nun ein Pure Play. 2016 legte die Aktie um stattliche 25% zu. Siemens hat die Medizintechniksparte mit 15 Mrd. USD Jahresumsatz in aller Stille konsolidiert und im November 2016 angekündigt, die Sparte als Pure Play auszugliedern und unter dem gewöhnungsbedürftigen Namen Healthineers an die Börse zu bringen. Das könnte ein Startschuss für eine Neubewertung des ganzen Sektors und neue Übernahmeaktivitäten werden.

Konzentration durch Akquisitionen

Stryker ist eine Traumaktie, die seit Jahren steigt. Allein 2016 übernahm der Konzern 8 Zielgesellschaften, die grösste lag bei 2.8 Mrd. USD. 2016 übernahm auch Abbott Labs St. Jude Medical, die Aktie legte um 30% zu. Der Konsolidierungsprozess ist also bereits in vollem Gang. Doch gute Ziele sind rar, zumindest die, die eine gewisse Grösse aufweisen.

Die potenziellen Akquisitionskandidaten müssen auch ins Portfolio oder in die Strategie des Kaufwilligens passen. Damit die Kurse der Käufer weiter steigen wie bei J&J und Stryker, müssen Synergien zu realisieren sein wie auch Kostensenkungspotenziale, die Erschliessung neuer Märkte und innovative Produkte sind wichtig, und die Deals sollten möglichst schnell, aus Börsensicht, zusätzliche Gewinne je Aktie bringen, sogenannte accretive earnings. In einer profitablen, reifen Industrie wie der Medizintechnik sind solche Deals durchaus möglich, da weitaus die meisten Unternehmen zum Teil seit langem in Familienbesitz sind.

Darüber hinaus gibt es jedoch auch Neugründungen, oft aus Universitäten heraus, die hoch innovative technologiegetriebene Lösungen entwickeln, und manchmal mit Venture Capital einer beschleunigten Entwicklung und Expansion zugeführt werden.

Beschränkte Auswahl an der Börse

Trotz der hohen Zahl von aktiven Schweizer Medtech Unternehmen ist die Auswahl an der Börse leider ziemlich beschränkt. Zum einen sind und bleiben viele, auch grössere Unternehmen, in Privatbesitz, da sie profitabel sind und keinen externen Kapitalbedarf haben. Zum anderen sind viele Unternehmen bereits aufgekauft worden, in der Regel die besten. Die qualitativ hochwertigen Medtech-Aktien sind fast durchwegs ambitioniert bewertet.

Sonova

Chart Sonova
Chart: SIXid

Die Aktie des Hörgerätespezialisten Sonova ist ein stabiler, langfristiger Outperformer. Seit 2011 hat sich der Kurs verdoppelt, das Hoch lag 2015 bei 152 CHF, um gut 20% höher als aktuell. Mit einem KGV 2017 von 18x ist das Wachstumsunternehmen nicht überbewertet. Zuletzt hat das Unternehmen die Erwartungen für das Geschäftsjahr 2016/2017 auf 14 bis 16% Umsatzwachstum in Lokalwährungen erhöht. Der Streubesitz liegt bei 66%.

Ypsomed

Chart Ypsomed
Chart: SIXid

Die Ypsomed-Aktie ist seit 2013 von 50 CHF auf 185 CHF gestiegen und zählt damit zu den besten Performern an der SIX. Auch Ypsomed hat die Wachstumserwartungen für 2016/2017 Ende 2016 auf 15% angehoben. Trotz der starken Geschäftentwicklung und guter Profitabilitätskennzahlen ist die Aktie nach dem Höhenflug mit einem Kurs-Umsatz-Verhältnis nahe 7x und einem historischen KGV von über 60x überbewertet. Der Streubesitz beträgt nur 27%.

Straumann

Chart Straumann
Chart: SIXid

Von knapp über 100 CHF in 2013 auf jetzt 400 CHF legte die Aktie des weltweit aktiven Dentalspezialisten Straumann zu. Die Bewertung ist ebenfalls ziemlich gedehnt. Das Kurs-Umsatz-Verhältnis 2015 beträgt aktuell 8x. Die Wachstumsraten liegen im niedrigen zweistelligen Prozentbereich. Der Streubesitz liegt bei 44%, grössere Pakete liegen bei institutionellen Anlegern.

Coltene

Chart Coltene
Chart: SIXid

Coltene ist ein weiterer kotierter Wert aus dem Dentalbereich. Das Unternehmen ist ein spezialisierter Händler von zahnmedizinischen Verbrauchsgütern. Allerdings ist die Umsatzentwicklung seit Jahren wenig dynamisch, der Grossteil des Gewinns wird ausgeschüttet. Ein Kauf des Unternehmens würde nur Sinn machen, wenn der Käufer verbesserten Zugang zu Abnehmern erhält und sein Geschäftsvolumen so steigern könnte. Inwiefern dies bei einem Händler von Verbrauchsgütern der Fall sein kann, muss abgewartet werden. Die Aktie ist mit dem zweifachen Umsatz und dem für 2017 geschätzten 18fachen Jahresgewinn bewertet, die Dividendenrendite beträgt stattliche 3,9%. Der Streubesitz liegt bei 45%, etliche grössere Aktienpakete liegen bei institutionellen Anlegern, darunter 6,88% bei Tweedy, Brown, den legendären Value Investoren.

Tecan Group

Chart Tecan
Chart: SIXid

Mit Tecan Group hat die SIX auch einen OEM-Hersteller von Automatisierungslösungen für Forschung, Forensik und Klinische Diagnostik auf dem Kurszettel. Hier herrschen hohe Eintrittsbarrieren und hohe Gewinnmargen. Die Liste der Aktionäre liest sich wie das „who is who“ der Finanzinvestoren: Chase Nominee, ING, Black Rock, UBS, CS, Norges Bank, Pictet. Der Streubesitz beträgt 46%. Das KGV 2017 liegt bei 23x.

Cendres+Métaux

Chart C+M
Chart: SIXid

Innovationen können im Medizinalbereich jedoch aus vielen Richtungen kommen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Cendres+Métaux, deren Aktie bei der ausserbörslichen OTC-X der Berner Kantonalbank (BEKB) gehandelt wird. Die metallurgische Kompetenz ist im Zuge der Restrukturierung und Neuausrichtung eine weitergehende Verbindung mit der Medizinaltechnik eingegangen, die nun eine der drei Geschäftssparten ist. So liefert C+M als White Label Produzent u.a. Zahnersatz für Straumann und profitiert so vom Mengenwachstum. C+M arbeitet jedoch u.a. auch an einem revolutionären Ansatz für Dialysepatienten. Über einen sogenannten „bone-anchored port“, eine Schädelbohrung hinter dem Ohr, kann die Dialyse sehr viel weniger aufwendig und komfortabel für den Patienten durchgeführt werden, eine wesentliche Steigerung der Lebensqualität. Und eine Kostenreduktion.

Fazit

Die Wachstumsraten in der Medizintechnik sind und bleiben weit höher als die der relevanten Volkswirtschaften. Aufgrund der explosionsartig wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und des technologischen Fortschritts sowie der ständig steigenden Lebenserwartung dürften sich die Zuwachsraten sogar noch beschleunigen. Die grossen Konzerne rüsten sich durch Akquisitionen, Konzentration und die Umwandlung in börsengefällige Pure Plays. Die Folge davon ist, dass die Aktien der Branchenvertreter eher ambitioniert bewertet sind, doch der Preis für hohe, prognostizierbar steigende Gewinne und Ausschüttungen ist schon immer höher gewesen als für zyklische Industrien. So gesehen bringt der Kursrückgang in der Medtech-Industrie seit der Wahl Donald Trumps zum nächsten Präsidenten der USA, weil die Anleger plötzlich zyklische Aktien bevorzugten, eine zumindest bessere Einstiegsbasis als zuvor. Der Börsengang von Siemens Healthineers und weitere kurstreibende Akquisitionen werden den Sektor 2017 jedenfalls verstärkt auf den Radar der aktiven Anleger bringen.

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