Macro Perspective: Schwierige Gemengelage an den Börsen

Kommt noch ein Kursschub?

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„Zu verkünden, dass es keine Kritik am Präsidenten geben darf oder dass wir unabhängig von richtig oder falsch zum Präsidenten zu stehen haben, ist nicht nur unpatriotisch und unterwürfig, sondern moralischer Hochverrat an der amerikanischen Öffentlichkeit.“ Theodore Roosevelt, 1858-1919, US-Präsident und Friedensnobelpreisträger

Nach einem starken Jahresauftakt sind die repräsentativen globalen Aktienindizes bereits wieder nahe ihren im letzten Jahr erreichten Rekordniveaus. Der SPI hat dank Novartis sogar bereits ein neues historisches Hoch erreicht! Geht der Gipfelsturm nun also weiter oder droht Ungemach, weil die Konjunktur abschlafft, die Unternehmensgewinne einbrechen oder die Handelskonflikte nun zu ausgewachsenen Handelskriegen werden?

Für den Moment überwiegen wieder die Auftriebskräfte, obwohl es genügend Gründe für eine vorsichtige Haltung gibt, vor allem die historisch hohen Bewertungen der Aktien. Das erneute Wohlbefinden der Investoren speist sich u.a. daraus, dass der Brexit einmal mehr aufgeschoben worden ist. Es bleibt alles offen. Ein zweites Referendum ist ebenso möglich wie eine erfolgreiche erneute Kampagne der Brexiters. Neues Momentum könnte aus dem politischen Comeback von Nigel Farage kommen, der eine Nachfolge-Partei für die zuletzt kraftlose UKIP ins Leben gerufen hat.

Seit zehn Jahren kennen die Aktienmärkte nur eine Richtung: aufwärts. Wird das so weitergehen? Chart: moneynet.ch

Wahlen zum Europäischen Parlament mit Briten

Ein Aspekt des Brexit-Aufschubes ist, dass die Briten als EU-Mitglieder nun doch an der Wahl zum Europäischen Parlament zwischen 23. Mai und 26. Mai teilnehmen werden. Daraus resultiert sehr wahrscheinlich eine Stärkung der rechtspopulistischen Fraktionen im europäischen Parlament. Als sicher gilt heute schon, dass die rechnerische Mehrheit von Christdemokraten und Sozialdemokraten, sozusagen die EU-Variante der GroKo, nicht weiter bestehen wird. Tatsächlich gibt es zahlreiche neue Parteien, und auch bei den Fraktionen ist viel in Bewegung. Am Ende sollte es nicht überraschen, wenn – ein Paradoxon – die EU-kritischen und europaskeptischen Parteien sogar die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament bilden würden.

Wachstum in der EU abgeschwächt

Überhaupt scheint es so zu sein, als ob Europa das Zünglein an der Waage ist, wo sich entscheidet, ob die globalen Auftriebskräfte überwiegen – oder eben nicht. Seit dem vierten Quartal 2018 hat sich das Wachstumstempo in den grössten europäischen Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich, UK und Italien spürbar abgeschwächt, wenngleich zuletzt wieder positivere Signale ausgesendet wurden.

Gerangel um Ämter

Die EZB hat somit den Zeitpunkt verpasst, die Leitzinsen wenigstens einmal im laufenden Zyklus anzuheben. Stattdessen lamentieren die Akteure darüber, dass sie noch über reichliche Möglichkeiten und Instrumente verfügen. Am 31. Oktober endet übrigens die EZB-Präsidentschaft von Super Mario. Wer sein Nachfolger werden wird, hängt wesentlich von der vorherigen Findung des EU-Kommissionspräsidenten und Nachfolgers von Jean-Claude Juncker ab. So einfach wie bei der Wahl Junckers wird es wohl dieses Mal nicht gehen, denn Juncker wurde gewählt, weil Christdemokraten und Sozialdemokraten nach der letzten Parlamentswahl 2014, wie auch zuvor, auf eine komfortable Mehrheit von 54% gekommen sind. Kandidaten für die Nachfolge sind u.a. der aktuelle Brexit-Unterhändler der EU, Michel Barnier, weiterhin Christine Lagarde, Federica Mogherini, Margarete Verstager, Frans Timmermanns sowie Manfred Weber.

Wer folgt auf Draghi?

Abhängig davon, wer bei dem berühmten Kuhhandel hinter verschlossenen Türen von Regierungschefs, Partei- und Fraktionsspitzen ausgewürfelt wird, kommt es hinterher zu einer ähnlichen Prozedur bei der Bestimmung des EZB-Präsidenten. Obwohl Jens Weidmann von der Deutschen Bundesbank ein Kandidat ist, dürfte einer der französischen oder finnischen Kandidaten eher konsensfähig sein. Weidmann hatte oft die QE-Massnahmen und die Negativzinsen kritisiert und sich damit im Kreis der Zentralbankkollegen keine Freunde gemacht.

Notenbankpolitik bleibt unverändert

So oder so – selbst im unwahrscheinlichen Fall einer Weidmann-Präsidentschaft bliebe doch die Mehrheit der Stimmen im EZB-Rat auf der bisherigen Linie, ganz einfach, weil die bisher nach den Kriterien der Zentralbanker einigermassen funktioniert hat und echte Alternativen nicht in Sicht sind. Zudem, die Bank of Japan stösst in dasselbe Horn, auch die Fed hat zuletzt ins Lager der Tauben gewechselt. Und auch die SNB verkündet keinen Richtungswechsel, sondern ist sogar bereit, die Negativzinsen, wenn erforderlich, weiter zu verschärfen.

Fed wird vorsichtiger

Das hören die Investoren gerne, denn ohne Liquidität ist eben alles nichts. Das hat sich im vierten Quartal 2018 schmerzhaft gezeigt. Die Börsenkorrektur ist wohl überwiegend auf die Erwartung weiterer Leitzinsanhebungen sowie der Verknappung der Liquidität zurückzuführen, wie von der Fed bis ins vierte Quartal kommuniziert.

Öl und US-Bonds als Indikatoren

Zwei Punkte verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Zu Beginn des vierten Quartals 2018 lag der Preis für ein Fass Rohöl (WTI) bei über 75 USD. Seit Juni 2017 war der Ölpreis von 46 USD ausgehend geklettert. Doch an Weihnachten 2018 lag der Preis bei weniger als 44 USD. Die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihen zeigt ein ähnliches Bild, nur etwas zeitversetzt. Das Hoch lag Anfang November bei 3,23%, doch das Tief betrug Ende März nur noch 2,37%.

Der Ölpreis erholt sich seit Jahresbeginn wieder. Chart: finanzen.net

Beide Entwicklungen signalisieren eine Nachfrageabschwächung, allerdings hat sich der Ölpreis zwischenzeitlich wieder deutlich nach oben bewegt. Die Hauptgründe sind aber neuerliche Sanktionen gegen den Iran sowie die Krise in Venezuela. Tatsächlich könnten die höheren Ölpreise bei einer fortgesetzt steigenden Tendenz sogar das Wachstum ganz abwürgen.

Protektionismus als Bremsklotz

In China hat sich das Wachstumstempo inzwischen auf rund 6% abgeschwächt, wobei Konjunkturprogramme und eine lockere Geldpolitik weiterhin die Konjunktur stützen sollen. Wie es im Ernstfall aussehen würde, bleibt abzuwarten. Kredite könnten ausfallen und der gesamten Wachstumsmaschinerie Sand ins Getriebe streuen. In den USA sind zwar die Unternehmensgewinne 2018 auf einem Rekordniveau angelangt, und auch die bisher für das erste Quartal vorgelegten Zahlen zeigen noch, dass fast 80% der Unternehmen die Erwartungen der Analysten übertreffen, doch nun zeichnet sich für den Rest des Jahres eine zumindest milde Gewinnrezession ab. In der Konsequenz kostet Trumps Konfrontationspolitik auch Wachstum in den USA. Der „Government Shut-down“ bremste die Nachfrage ebenso wie die Zölle auf chinesische Importe. Auch die Konflikte mit Mexico und der EU dämpfen das Wachstum.

Anti-Trump-Bewegungen mit Zulauf

Zudem könnte sich die bei Trump-Anhängern verbreitete Siegeseuphorie auch ändern. Zum einen sind die Auswirkungen politischer Entscheidungen wie die Einführung von Zöllen oder die Aufkündigung von Handelsverträgen nicht von heute auf morgen zu spüren, sondern erst mit der Zeit. Tatsache ist jedoch, dass die Zustimmungsrate der Bevölkerung zu Trump als Präsidenten die niedrigste in der Geschichte ist. Hoch ist sie jedoch bei seinen Stammwählern. Bereits 2020 stehen die nächsten Wahlen an, und es ist fraglich, ob die öffentliche Reaktion auf die Politik der Polarisierung und Aus- und Abgrenzung wirklich noch eine Mehrheit zulassen wird. Die öffentliche Diskussion ist jedenfalls zunehmend von Themen bestimmt, die als Anti-Trump-Reaktionen zu erklären sind. Nie war der Kampf für Frauen- und Bürgerrechte, gegen Rassismus, gegen Polizeiwillkür und Umweltzerstörung ähnlich dynamisch und breit angelegt.

Ungleichheit – ein „nationaler Notfall“

Die Ungleichheit ist dabei zum Spitzenthema geworden. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren will den Monopolen der digitalen Welt auf den Pelz rücken, Bernie Sanders die Steuern erhöhen. Selbst den Milliardären geht verstärkt auf, dass etwas nicht stimmen kann in den USA. Von Warren Buffett ist bekannt, dass er höhere Spitzensteuersätze begrüssen würde. Er findet, dass es nicht sein kann, dass er weniger Steuern als seine Sekretärin bezahlt. Auch Hedge-Fund-Milliardär Ray Dalio ist besorgt über die Kluft zwischen Arm und Reich. Er fordert eine „Reform des Kapitalismus“ und nennt das Thema einen „nationalen Notfall“. Zu den Bullet Points zählen Argumente, die auch in der Macro Perspective wiederholt behandelt wurden, etwa, dass ein grosser Teil der US-Bevölkerung keine 400 USD für eine ausserordentliche Belastung aufbringen kann.

70% Spitzensteuersatz gefordert

Alexandria Ocasio-Cortez. Bild: guardian.uk

Die Rufe nach einem New New Deal oder einem Green New Deal werden immer lauter, und wie auch Dalio feststellt, sind die sozialen Verhältnisse tatsächlich mit denen der 1930er Jahre fast identisch. Als regelrechter Schreck für das Establishment hat sich die 29-jährige demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez erwiesen, die 70% Spitzensteuersatz fordert.

Der Mueller-Report

All diese Entwicklungen könnten sehr wohl dazu führen, dass das Pendel bei der nächsten Wahl zum Präsidenten in die andere Richtung ausschlägt. Der Mueller-Report ist zwar einerseits der Hauptgrund für den gegenwärtigen Enthusiasmus der Trump-Anhänger, weil keine Beteiligung an den Wahlmanipulationen der Russen nachzuweisen war, andererseits aber wurde der Vorwurf der Justizbehinderung zwar nicht bestätigt, jedoch eben auch nicht verworfen. 11 Vorfälle wurden von Mueller minutiös dargelegt, darunter die Entlassung von FBI-Chef Comey, die sehr wohl weitergehende Ermittlungen durch den Kongress begründen würden. Vielsagend ist der Ausspruch Trumps: „Oh my God. This is terrible. This is the end of my presidency. I’m fucked.“, nachdem er von der Ernennung Muellers zum Sonderermittler erstmals erfahren hatte.

„Total Loser“

Die durchsichtigen Manöver zur Diskreditierung Muellers und die kontinuierlichen Versuche zur Einflussnahme werden zurecht als Gangstermethoden bezeichnet, denn sie sind nicht nur durch und durch mafiös, sondern Trump hat sie von seinem Mentor auch so erlernt. Schauspieler Robert de Niro geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet Trump als „Total Loser“ und „Wannabe Gangster„. Aber selbst wenn der Kongress keine weiteren Ermittlungen gegen Trump einleitet, so sind doch die vielleicht für Trump gefährlicheren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft des Staates New York noch nicht abgeschlossen.

Börsenprognosen gehen weit auseinander

So kann es sich der Anleger aussuchen, alle Meinungen sind vertreten, was die weitere Verfassung der US-Börse anbelangt. Von „Melt-up“, also explosiven Kurssteigerungen, wie Blackrock Chef Fink prognostiziert, bis hin zu überfälliger Korrektur, wie viele Wall Street Auguren erwarten. Sogar genau dazwischen, nämlich unveränderte Kurse, sind eine Möglichkeit, wenngleich eine unwahrscheinliche.

Alles positiv?

Der aktuelle Aufwärtstrend an den Börsen scheint jedenfalls für den Moment zu sagen, dass die Risiken im Griff sind und bis auf Weiteres kein Grund für Pessimismus gegeben ist. Da immer noch reichlich Liquidität auf Anlage drängt und kaum Alternativen zu Aktien erkennbar sind, kann sich daher die Hausse weiter fortsetzen, solange Liquidität und Anlegerpsychologie positiv sind und bleiben. Dies ist natürlich kein Markt für Contrarians, denn wenn Liquidität und Psychologie schon positiv sind, kann die nächste grössere Bewegung nur in die andere Richtung gehen.

Die Rolle der Psychologie

Nach Ansicht von Robert Shiller hat die Hausse an der US-Börse trotz der hohen Bewertungen auch ein hohes Stehvermögen, das er auf die psychologische Komponente zurückführt. Die Amerikaner würden ihre Business Heros lieben, und da so viele der amerikanischen Erfolgsgeschichten von Apple über Amazon bis Google mittlerweile an der Börse sind, sei auch das Investieren in solche Gewinner-Aktien wieder ein Teil der nationalen Psyche. Verstärkt sei das Ganze noch durch die Tatsache, dass mit Trump ein ebensolcher Business Hero sogar Präsident ist. Daraus ist ein positiver Feedback-Loop entstanden, der mehr mit der nationalen Psyche als mit den ökonomischen Realitäten zu tun hat.

Auftriebs- und Fallwinde

Dieser Prozess der Entkoppelung von Finanzmärkten und ökonomischen Realitäten birgt zwar immer die Chancen spekulativer Gewinne, doch die Erfahrung lehrt, dass Phasen des irrationalen Überschwangs eher früher als später in Tränen enden. Jeder beliebige Krisenherd kann zum Auslöser einer scharfen Korrektur werden. So streitet sich die italienische Regierung ernsthaft, und die Koalition aus Links- und Rechtspopulisten könnte schnell platzen. Das Land steht ohnehin am Rande einer Banken- und Staatsschuldenkrise, und eine Regierungskrise könnte ohne Weiteres ein Auslöser sein. Das würde EZB und EU möglicherweise überfordern. Die China-US Verhandlungen dürften kaum so enden, dass China wesentliche Nachteile hinnimmt. Und auch die EU, das nächste Ziel Trumps, wird Zähne zeigen müssen, soll die Daseinsberechtigung erwiesen werden.

Börsenverlauf bleibt zyklisch – trotz allem

Man muss kein Ökonom sein, um zu erkennen, dass die genannten Faktoren eine negative Wirkung auf Wirtschaft und Wachstum haben und damit mittelfristig auch auf die Börse. Kurzfristig können Steuerreduzierungen wie in den USA, Konjunkturprogramme wie in China und ein internationaler Nachfrageboom bei deutschen Automobilen zwar das Bild schönen, doch letztlich werden auch diese künstlich inflationierten Phänomene nicht die Wirkung der Schwerkraft aufheben können.

What goes up, must come down. Das gilt für Wirtschaft und Börse, aber ebenso auf gesellschaftlicher Ebene, wie bereits Roosevelt so treffend zu seiner Zeit erkannte: „Von allen Arten der Tyrannei ist die hässlichste und ordinärste die Tyrannei blossen Reichtums, die Tyrannei der Plutokratie.“

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