Macro Perspective: Eskalation der Krisen und des Schuldenproblems

IWF warnt vor 19 Billionen USD Zeitbombe bei Corporate Debt

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„Der Feind befindet sich in unseren Mauern. Gegen unseren eigenen Luxus, unsere eigene Dummheit und unsere eigene Kriminalität müssen wir kämpfen.“: Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr., Römischer Politiker, Philosoph, Redner

Quelle: marketwatch.com

Die Lage spitzt sich zu. Auch drei Jahre nach dem Brexit-Referendum ist das meiste unklar. Unterdessen läuft in Hongkong alles auf eine Kraftprobe zwischen Demokraten und Kommunistischer Partei hinaus. Und auch in Katalonien ist der Konflikt mit der Zentralregierung nach den drakonischen Freiheitsstrafen für die Initiatoren des Referendums wieder voll entbrannt. Diese und weitere geopolitische Krisen dämpfen die ohnehin schwache Konjunktur zusätzlich. Die Notenbanken haben bereits wieder die Liquiditätsschleusen geöffnet. Diese Dauermedizin hat jedoch schon jetzt eine für Wirtschaft und Börse fatale „Zeitbombe“ bei den inzwischen verschuldeten Unternehmen geschaffen – vor allem in den grössten Volkswirtschaften. Neues Denken und neue Lösungen werden gebraucht.

Die Stimulation der schwachen Nachfrage durch tiefe und sogar negative Zinsen hat reichlich Nebeneffekte, die zu unbeabsichtigten Konsequenzen führen. Dazu zählt, dass Unternehmen die Vorteile der künstlich tief gehaltenen Zinsen nicht nur nutzen, sondern sich mehr Kapital leihen, als sie schultern können. Der IWF ist in seinem eben veröffentlichten „Global Financial Stability Report“ nach gründlichen Analysen besorgt, dass fast 40% der Unternehmensverschuldung in den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt in einer nur halb so scharfen Rezession wie 2007/2008 nicht mehr bedient werden könnten. Es geht um die beträchtliche Summe von 19 Billionen USD, die dann im Regen stehen wird. Betroffen sind vornehmlich die USA, China, Japan, UK, Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien.

Anstieg der Unternehmensverschuldung in den USA; Anteil der US-Unternehmensschuldtitel am Gesamtmarkt (Industrieländer). Quelle: BIZ, Credit Suisse

Verwerfungen

Angesichts der unübersehbaren Signale für eine rapide Abschwächung der globalen Nachfrage ist dieser Teil der Schuldenproblematik nicht einfach auszublenden. Es kann jederzeit zu einem Dominoeffekt kommen. Weil mittlerweile Staatsanleihen im Volumen von 15 Billionen USD negative Renditen aufweisen, sind Pensionskassen, Versicherungen und andere Kapitalsammelstellen mehr und mehr dazu übergegangen, in riskantere Asset-Klassen wie Unternehmensanleihen, Aktien und Immobilien zu investieren.

Die bringen zwar derzeit immerhin eine positive Rendite, sind jedoch in einem allfälligen Korrekturszenario von Verkaufswellen und scharfen Abwertungen bedroht. In der globalisierten Börsenwelt von heute übertragen sich jedoch Verwerfungen an einem Ort oder in einer Asset-Klasse fast in Realzeit rund um den Erdball. Dazu kommt noch der Herdeninstinkt, von dem auch Politiker in ihrem Nichts-Tun und Investoren in ihrem gleichgerichteten Investmentverhalten betroffen sind.

Schlafwandeln in die nächste Finanzkrise

Was gefordert ist, so der Vorgänger von Mark Carney an der Spitze der Bank of England, Mervyn King, bei einer Rede anlässlich der IWF-Tagung in Washington, sind „neues Denken und intellektueller Wandel“. Nach der Krise der 1930er Jahre habe es beides gegeben, doch nach 2008/2009 nicht. Die Erholung nach der grossen Rezession 2008/2009 sei schwächer ausgefallen als die nach der grossen Depression!

King ist frei von Zwängen, da er nicht mehr in einem öffentlichen Amt ist, und kann daher deutliche Worte finden. Eine weitere Wirtschafts- und Finanzkrise wäre vernichtend für die Legitimität des demokratischen Marktsystems und, so King weiter, wir schlafwandeln in diese Krise, indem wir der neuen Orthodoxie der Monetären Politik anhängen und vorgeben, dass das Bankensystem sicher sei!

Krisen als Symptome

In diesem Zusammenhang verweist er auf die zahlreichen Krisen, die auch seit langer Zeit Gegenstand der Macro Perspective sind, darunter der Handelskrieg zwischen den USA und China, die Aufstände in Hongkong, Probleme in Emerging Markets wie der Türkei und Argentinien sowie die Uneinigkeit in der EU, insbesondere zwischen den Kernländern Frankreich und Deutschland. Die geopolitischen Risiken nehmen ebenfalls zu in einer Zeit, die davon geprägt ist, dass sich die USA aus ihrer Rolle als Weltpolizist zurückziehen. So kann die neuerliche Eskalation in Nord-Syrien, im Persischen Golf und im Südchinesischen Meer ebenso wie die Kraftprobe in Hongkong direkt in einen Zusammenhang gestellt werden.

Ursachen und Wirkungen

Statt Ordnung und Stabilität beherrschen heute Auflösung, Konflikte, Vormachtstreben und eskalierende, weil ungelöste Probleme das Bild. Ein Grund dafür ist, dass diese sich immer weiter ausbreiten und verlagern, es bilden sich neue Lager, was dann zu Stellvertreterkriegen mutieren kann, wie im Nahen und Mittleren Osten oder in Afrika. Dort löst ein Krieg den vorhergehenden ab. Die Folge ist, dass zusätzlich zu den Klimaflüchtlingen auch Kriegsflüchtlinge ihre Heimat verlassen müssen.

Probleme und Plattitüden

Weder das eine zugrundeliegende Problem noch das andere werden in der entwickelten Welt rational betrachtet, weshalb rechtsextreme Parteien es leicht haben, mit ihren Plattitüden die Spaltung der EU voranzutreiben. Ziel ist die Abschottung und der Blick nach innen. Ein integraler Bestandteil xenophobischer Bewegungen ist auch die Leugnung der Ergebnisse der Klimawissenschaft – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Nach einer zeitweiligen Überwindung von nationalistischen Prioritäten wie vielleicht zwischen den 1970er Jahren und 2015 hat mittlerweile wieder die kurzsichtige Perspektive die Überhand gewonnen.

Überwundene „Erbfeindschaft“

Wie absurd dies ist, zeigt das Beispiel der historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Über Jahrhunderte wurde spätestens alle 30 Jahre ein Krieg geführt, die Kinder wurden jeweils mit dem Bild des „Erbfeindes“ diesseits und jenseits des „Schicksalsflusses Rhein“ aufgezogen. Erst nach der vorläufigen „Endlösung“ Zweiter Weltkrieg wurde der propagandistische Graben überwunden. Die nachfolgende Annäherung und Freundschaft bildete das Fundament für die längste europäische Friedens- und Wohlstandsperiode. Für jeden nach 1945 Geborenen ist die „Erbfeindschaft“ so weit weg wie die „Heilige Römische Inquisition“, die einen Drittel der Europäerinnen – Hexen – vom Leben zum Tod beförderte.

Fake News und Lügen

Um Lösungen ist kaum noch einer in den Regierungen bemüht, vielmehr geht es scheinbar nur noch darum, kurzfristige und auch kurzsichtige Vorteile zu erringen. Das zeigt sich in dem beispiellosen Niedergang der politischen Kultur, wie insbesondere von Trump und seinen Nacheiferern wie Bolsonaro oder Johnson vorgeführt. Da werden Partner im Kampf gegen die apokalyptischen IS-Reiter wie die Kurden einem dem Cäsarenwahn verfallenen Erdogan und seinen kleinkarierten Expansionsgelüsten überlassen oder, wie im Vereinigten Königreich, die Queen und das Parlament belogen, die Wähler sowieso.

Säkulare Stagnation

Die simple und brutale Wahrheit ist, dass die Welt schon seit mehr als 10 Jahren in einer „säkularen Stagnation“ steckt. Das Wachstum ist schwächer als in den Jahrzehnten zuvor – und gäbe es nicht die Segnungen der Modern Monetary Theory, also verdeckte Staatsfinanzierung durch Anleihekäufe und Tiefzinsen, so hätte sich die Depression längst ausgebreitet. Und im Gegensatz zu all dem Gefasel von Wachstumsschüben durch den Einsatz zukunftsträchtiger Technologien ist doch die Produktivität tatsächlich kaum noch gestiegen. Dies sei auch der wahre Grund für die tiefen Zinsen, weil sich Investitionen sonst kaum noch lohnen würden, meinen manche Ökonomen. Das wiederum hat bereits zu massiven Fehlinvestitionen geführt, etwa in den Exportnationen China und Deutschland. Diese und andere Überkapazitäten lasten nun auf den Märkten, die zudem einem tiefgreifenden Wandel unterworfen sind.

Das zeigt sich deutlich darin, dass an den unterschiedlichsten Orten der Welt Proteste aufblühen. Nicht nur in Hongkong, sondern beispielsweise auch in der Schweiz, wenn wir an die Demonstrationen der Schweizerinnen im Sommer denken. Und wie in anderen Ländern auch, hat sich die aufgestaute Unzufriedenheit über die Inaktivität der Regierenden bei den wirklich wichtigen Fragen nun in entsprechenden Wahlergebnissen niedergeschlagen.

Aufbrechende Proteste

Ebensowenig wie Frauenstreiks in der Schweiz ins öffentliche Bild passen, überraschen auch die heftigen Proteste in Katalonien oder in Chile, dem angeblichen Musterknaben in Südamerika. Weil sich der Grossteil der Bevölkerung die Erhöhungen der U-Bahn-Tarife nicht leisten konnte, kam es zu Eskalationen, weil gleich mit massiver Militärpräsenz der Aufstand niedergeschlagen wurde. Tatsächlich drückt sich jedoch eine Frustration der Mehrheit aus, die wegen Korruption, Nepotismus und ungleichen Chancen keine Perspektiven sieht. In Bolivien dagegen opponieren die meisten Wähler gegen eine vierte Amtsperiode des Präsidenten Morales, obwohl dieser in den letzten 12 Jahren das Los der meisten Bolivianer merklich verbessert hat. Die Verfassung sieht aber maximal zwei Perioden für den Präsidenten vor.

Demokratien in Gefahr

Ob, in klassischen Kategorien gedacht, rechts oder links, spielt in dem Bestreben der Regierenden keine grosse Rolle. Notfalls wird das Wahlrecht eben geändert und die Opposition liquidiert oder inhaftiert. Was Erdogan, Morales und viele weitere Regierenden vereint, ist ihr krampfhaftes Bestreben, auf jeden Fall und notfalls mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben. Tatsächlich kann in vielen Ländern kaum noch von demokratischen Verhältnissen und Wahlen gesprochen werden. Mit anderen Worten: Was Mervyn King befürchtet, ist eigentlich in weiten Teilen der Welt längst Realität.

Faustrecht des Stärkeren?

Wenn aber der Blick nur nach innen gerichtet ist auf nationale Vorteile, wird die internationale Politik zum Nullsummenspiel – der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Dabei gilt, wie Trump es demonstriert, das Faustrecht des Stärkeren – und Minoritäten sind in einer solchen Zeit, wie die Vergangenheit wieder und wieder lehrt, immer die Leidtragenden. Dass ausgerechnet die Türkei erneut zum Völkermörder wird, und das als NATO-Mitglied und unter den Augen der Welt, ist leider nicht beispiellos, aber nichtsdestotrotz inakzeptabel. Dasselbe gilt auch für die Stämme, die am Amazonas leben und systematisch ausgerottet werden.

Politische Lösungen gefragt

Ob Klimawandel, kriegerische Konflikte oder die globale Wachstumsschwäche – gefragt sind nicht die Notenbanken, die schon lange mehr getan haben, als ihnen zukommt, sondern die Politiker. Die haben sich oft gemütlich eingerichtet, vertreten aber kaum noch eine identifizierbare Linie und die Interessen ihrer Wähler. Sezessionsbestrebungen, Polarisierung, Spaltung, Unruhen sind einige der Folgen. Eines der Kernprobleme ist, dass Politiker  wiedergewählt werden wollen und deshalb grundlegende Änderungen oder Kurskorrekturen eben nicht vornehmen, um nicht an Popularität zu verlieren. Die Notenbanken sind ein wenig zu bereitwillig in die Bresche gesprungen, doch dadurch wurde im Grunde nur Zeit für die Politiker gekauft, die aber bisher nur widerwillig Lösungen anzubieten fähig sind. Allerdings kann inzwischen nicht mehr nur von einem Rechtsruck die Rede sein, denn, wie viele Wahlergebnisse zeigen, hat die ungebremste Klimakatastrophe inzwischen auch eine überraschende Erstarkung der grünen Parteien mit sich gebracht. Nicht zuletzt darin zeigt sich, dass die alten politischen Kategorien und, soweit vorhanden, Ideologien nicht mehr relevant sind.

Politische Aspiranten und Funktionsträger sollten bedenken, was Cicero sagt: „Der Staatsdienst muss zum Nutzen derer geführt werden, die ihm anvertraut sind, nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut ist.“

 

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