Macro Perspective: Schlafwandelnde Investoren suchen traumhafte Renditen

Börsentendenz konterkariert historischen Einbruch der Wirtschaft

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„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch grössere Illusion ist als die Welt des Traumes.“ Salvador Dali, 1904-1989, Maler, Schriftsteller, Filmemacher

Die Kapitalmärkte werden mit Liquidität geflutet, die Kursentwicklung folgt weiter den seit Monaten laufenden Trends. Allerdings gibt es Divergenzen – die Technologiebörse Nasdaq setzt neue historische Rekordmarken, der S&P 500 bleibt demgegenüber zurück, und weniger attraktive Börsen wie Madrid oder Hongkong bewegen sich seitwärts nur wenig über ihren diesjährigen Tiefs. Unterdessen hat auch der Goldpreis neue historische Rekorde erklommen. Die Börsen antizipieren soweit richtig. Doch sind auch die zunehmenden Pleiten und Revolten sowie das Auslaufen vieler staatlicher Hilfsprogramme im zweiten Halbjahr einkalkuliert? Und vor allem die unbeeindruckt weiterhin grassierende Pandemie?

„The trend is your friend … until it isn´t“: Der zweite Teil der Börsenweisheit wird meist unterschlagen, denn wer denkt schon gerne an das Ende einer Freundschaft. So ist es auch mit schönen (Tag-)Träumen. Sie sollen nie aufhören. Insofern sind die Investoren ungeachtet der brutalen wirtschaftlichen Depression nach dem Korrektur-Schock im Frühjahr wieder schnell in den Rendite-Traum eingestiegen – und wollen auch nicht aus ihm aufwachen.

Liquidität für Untote

Das war und ist jedoch nur mit Hilfe der Notenbanken als Schleusenmeister der Liquidität möglich. Trotz der enormen Ausweitungen der Bilanzsummen der Notenbanken sind allerdings realwirtschaftliche Effekte der Wertpapier-Kaufprogramme kaum noch auszumachen – ausser der Tatsache, dass Zombie-Unternehmen aller Couleur ihr Dasein als Untote fortsetzen können. Das verzerrt den Wettbewerb, bindet Kapital und verhindert das Entstehen neuer und besserer Technologien und Industrien, weil das verfügbare Kapital von den Zombie-Unternehmen fast vollständig absorbiert wird.

Deutschland verlängert Kurzarbeitsregelung auf 24 Monate

Aber auch die Regierungen setzen kaum andere Akzente, denn in der gegebenen Situation geht es vor allem darum, das Schlimmste zu verhindern und gleichzeitig die Weichen so zu stellen, dass nichts einer Erholung der Wirtschaft und neuerlichem Wachstum im Wege steht. Deutschland hat soeben beschlossen, die Kurzarbeitsregelung auf 24 Monate von bisher 12 Monaten zu verlängern. Diese Massnahme verhindert auf ein weiteres Jahr grosse Entlassungswellen und untermauert zugleich die soziale Kohäsion und damit den sozialen Frieden. Die Schweiz könnte ähnlich agieren und bestimmt noch eine Handvoll von EU-Staaten mit geringer Verschuldungsquote wie Dänemark oder Österreich.

Unterstützung – wie lange?

Doch in den USA, auf den britischen Inseln und fast überall sonst auf der Welt fehlen schlicht die Mittel und die Schuldentragfähigkeit, um die teilweise grosszügigen Unterstützungsmassnahmen fortsetzen zu können. So gilt als sicher, dass die Briten ihr Zwangsbeurlaubungsschema nach Oktober nicht fortsetzen. In der Spitze wurden 9,5 Mio. Arbeitnehmer durch staatliche Bezahlung von 80% der Bezüge, maximal 2’500 GBP pro Monat, finanziert. Das verschlang bisher 35 Mrd. GBP. In den USA ist es ebenfalls unwahrscheinlich, dass weiterhin und auf längere Sicht Helikopter-Geld verteilt wird. Die Budgetdefizite unter Trump steigen explosionsartig und seit Beginn der Pandemie exponentiell. Der Kongress blockiert. Während die Arbeitslosenrate in Deutschland im letzten Jahr nur von 5% auf 6,3% gestiegen ist, dank dem krisenerprobten Kurzarbeits-Mechanismus, ist die Arbeitslosenrate in den USA schnell auf 14,7% geschossen. Zu beachten ist hierbei, dass in den USA Langzeitarbeitslose und nicht aktiv Arbeitsuchende schon seit Jahren nicht mehr in der Statistik erfasst werden, womit die Quote tatsächlich sehr viel höher ausfällt und kaum mit den Statistiken in Europa verglichen werden kann.

Feedback-Loop der binnenorientierten US-Wirtschaft

Zwei Drittel des US-BIP entfällt auf den Konsum der Bevölkerung. Das ist wohlbekannt und war immer als ein gewisser Vorteil angesehen worden, doch im Lichte der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen sieht es, bei sachlicher Betrachtung, doch viel eher wie ein gewaltiger Nachteil aus. Wäre die Pandemie im März und April wie in Westeuropa eingedämmt worden, würden die USA heute wohl besser dastehen, denn dann wäre die wenig eingeschränkte Inlandnachfrage eine Stütze für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Stattdessen brach das BIP im zweiten Quartal um 32,9% ein.

Entwicklung des US Bruttoinlandprodukts (BIP) auf Quartalsbasis. Quelle: marketwatch.com

In Deutschland betrug der Einbruch 10,1% – ebenfalls ein historischer Negativrekord, doch eben weniger als ein Drittel der US-Kontraktion. Bereits vor Corona waren vergleichsweise viele US-Bürger ohne Krankenversicherung und Sozialschutz, und ein grosser Teil der Bevölkerung hatte keinerlei Rücklagen, so dass selbst wenige Hundert USD aussergewöhnliche Belastung die prekäre Finanzlage in ein Desaster und den privaten Ruin verwandeln. Ähnliche Bilder mit langen Schlangen vor Suppenküchen und Essensausgaben sieht man sonst nur in Drittweltländern oder Katastrophengebieten.

Stimmung wird superbullish

Bei der Betrachtung des US-Börsengeschehens sticht manches ins Auge. Die absolute Mehrheit sowohl der Investment Profis als auch der Privatanleger ist superbullish für den Aktienmarkt. Der ist lange genug gestiegen, um auch noch dem letzten Zögerer und Zauderer seine „Angst etwas zu verpassen“, oder neudeutsch FOMO – fear of missing out, überwinden zu lassen. Während Privatanleger vielleicht überwiegend einfach dabei sein wollen, finden die professionellen Marktteilnehmer natürlich Argumente und Vergleiche, die die Hausse bestätigen – Multiple-Expansion, relative Bewertung, Kapitalströme, Japan in den 1990er Jahren …

Die Mehrheit liegt falsch

Doch die Geschichte der spekulativen und manischen Phasen lehrt, dass die Mehrheit nahezu immer falsch liegt – und dennoch immer wieder den Verlockungen des schnellen Geldes erliegt. Natürlich sind immer andere Generationen in einem anderen Setting betroffen, doch kann es dann angesichts der gehäuften Frequenz von Hausse und Baisse nur verwundern, wie schlecht die Gedächtnisleistung der Anleger geworden ist, denn 2008 und 2001 liegen für den Grossteil der aktiven Anlegerschaft durchaus im persönlichen Langzeitgedächtnis.

Wenige Gewinner

Bei den Aktien ziehen unverändert Apple, Amazon & Co. die Indizes nach oben. Aufgrund ihrer hohen Gewichtungen schlagen die hohen Kursgewinne auch in den Indizes zu Buche. Apple hat eben als erstes Unternehmen eine Marktkapitalisierung von 2 Bio. USD überschritten, das ist mehr als die gesamte Marktkapitalisierung der meisten europäischen Länder. Wenn sich aber immer mehr Anlagekapital auf immer weniger Leit-Aktien konzentriert, war dies stets auch ein Signal dafür, dass die Phase der marktbreiten Hausse zu Ende ist und der Late Cycle begonnen hat. Nur wenige Unternehmen ausserhalb des engen Kreises der Marktleader können nach sechs Monaten Pandemie wirklich überzeugen.

Kursverlauf der Aktie der Thermo Fisher Scientific in CHF. Quelle: finanzen.ch

Ein klarer Gewinner ist Thermo Fisher Scientific, die mehrmals in der Macro Perspective Erwähnung als aussichtsreiche Aktie fand. Auch im zweiten Quartal 2020 stiegen sowohl Umsatz als Gewinn zweistellig und stärker als von Analysten erwartet. Der auf Analytik spezialisierte Mischkonzern hat sogar das Angebot bei der Qiagen-Übernahme um 10% erhöht, um dem höheren Marktwert der Qiagen-Geschäftsbereiche in der Pandemie Rechnung zu tragen.

Dollar-Trendwende

Am Devisenmarkt ist es zu einer bemerkenswert schnellen Trendumkehr des USD-Höhenflugs gekommen. Gemessen am DXY-Index, der sechs Währungen gewichtet nach Bedeutung gegenüber dem USD repräsentiert, war der USD in den letzten drei Jahren von 89 auf fast 103 Punkte gestiegen, dann jedoch seit März rapide auf aktuell 93 Punkte zurückgefallen, also um 10%. Und das ist an den Devisenmärkten, zumal bei der Leitwährung, viel. Um eine kompetitive Abwertung zur Verbesserung der Exportchancen dürfte es sich nicht handeln. Die Dollarschwäche zeigt vielmehr, dass die Perspektiven der USA, nicht zuletzt durch das schlechte Pandemie-Management, deutlich eingetrübt sind. Angesichts der hohen Bewertungen an den US-Aktienmärkten wurden auch Gewinne realisiert und zusammen mit frischem Anlagegeld in Europa investiert, wo die Auswirkungen der Pandemie im Vergleich zu den USA weniger harsch sind und die Aktien günstiger bewertet.

USD Währungsindex im letzten Jahr. Quelle: de.tradingview.com
Depression oder business as usual?

Es ist eben immer so eine Sache mit der Perspektive – und wodurch diese sich auszeichnet. Die Amerikaner halten sich für die Grössten und sind deshalb von allem, was sie tun, immer vollständig überzeugt. Die Realisierung steht noch aus, dass vier Jahre Trump zwar die Centimillionäre und Multimilliardäre noch reicher gemacht, aber das Leben für den Rest der Bevölkerung, die 99%, noch schwerer gemacht hat. Während die offizielle Berichterstattung Optimismus und mehr oder weniger „business as usual“ vortäuscht, sieht ein grosser Teil der Bevölkerung nur ein tiefes schwarzes Loch vor sich. Deshalb haben sich Proteste und Protestbewegungen formiert, die teilweise bürgerkriegsähnliche Ausmasse angenommen haben.

Präsidenten als Covid-Experten

Auffällig ist auch, dass in den USA, obwohl Sitz der meisten Pharma- und Biotech-Unternehmen, die auf wissenschaftlicher Basis an Impfstoffen arbeiten, auch abstruse und teilweise gefährliche „angebliche“ Covid-Mittel zur Prophylaxe, Behandlung und Desinfektion promotet und vertrieben werden (können). Der Präsident macht mit seinen Empfehlungen keine Ausnahme. Hier gibt es Parallelen nicht nur zu Brasilien, sondern auch zu Indonesien. Das viertbevölkerungsreichste Land der Welt hat keinen Lockdown installiert, minimale Testkapazitäten und hält die Zahlen rund um Covid-19 mehr oder weniger geheim. Stattdessen tun sich der Präsident und die Regierungsmitglieder mit bestenfalls skurrilen Ratschlägen zur Gesundheit hervor. Von einem aus Eukalyptus geflochtenen Kranz über den Saft der tropischen Mangosteen-Frucht bis hin zu Reis in Bananenblättern reicht der Rat der Staatsspitze sowie, natürlich, Gebete.

Volatilität bei Devisen, Edelmetallen und Öl

Während die Aktien- und die Bondmärkte durch QE und billionenschwere Corona-Programme der Regierungen Stabilität zeigen, was sie ja auch sollen, finden die eruptiven Bewegungen an den Devisenmärkten statt – ein Beispiel, abgesehen vom USD, ist die in der Macro Perspective seit Jahren prognostizierte und kommentierte Schwäche von Wirtschaft und Währung in der Türkei. Die Lira ist mit -20% seit Jahresbeginn eine der absolut schwächsten Währungen in 2020. Einer der Gründe ist die vom Präsidenten erzwungene Tiefzinspolitik, die dafür sorgt, dass die Realzinsen nun bei -4% liegen. Tourismus, Export, Binnennachfrage – die Aussichten sind trübe. Zur Ablenkung von der katastrophalen Politik wird weiterhin gegen Oppositionelle, Journalisten, Minoritäten vorgegangen, mit den Nachbarn um die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer gestritten und in die Kriege in Syrien und Libyen eingegriffen. Nicht zuletzt spitzt sich auch der schwelende Konflikt mit der EU erneut zu.

Edelmetalle im Aufwärtstrend

Starke Preisbewegungen zeigen auch die Edelmetall- und die Ölmärkte. Gold stieg erstmals in der Geschichte auf über 2’000 USD je Feinunze, in der Spitze auf 2’089 USD. Auch nach der aktuellen Korrektur liegt die 12-Monats-Performance auf USD-Basis bei 29%. Der Gipfelsturm löste auch bei Silber den in der letzten Macro Perspective prognostizierten Preissprung von 22 USD je Feinunze auf fast 30 USD aus. Rückschläge wird es geben, doch der Aufwärtstrend bleibt intakt. Der Hauptgrund ist, dass Edelmetalle niemandes Zahlungsversprechen beinhalten. Der Gesamtwert allen Goldes der Welt beträgt aber weniger als ein Zwanzigstel des weltweit ausstehenden Kreditvolumens. Wie viel davon in der Zukunft zurückgezahlt wird, werden erst Wirtschaftshistoriker der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts sagen können, doch sicherlich nicht alles – und vielleicht sogar weniger als die Hälfte.

Entwicklung des Gold-Preises in USD. Quelle: de.tradingview.com
Wertberichtigungen auf stranded assets

Am Ölmarkt haben die Multis scheinbar endlich erkannt, dass sie auf „stranded assets“ sitzen. Sieben der grössten Ölkonzerne haben Wertberichtigungen im Volumen von 87 Mrd. USD allein in den letzten drei Quartalen vorgenommen, darunter BP und Royal Dutch Shell. An den Spot- und Terminmärkten hat sich der Preis pro Fass WTI zwar auf über 40 USD berappelt, doch die ferner in der Zukunft liegenden Liefertermine zeigen eine Preisschwäche an, Contango genannt. Trotz Förderdisziplin der OPEC+-Länder zeigt sich darin eine erwartete Nachfrageschwäche.

Insbesondere mit Blick auf Politiker gilt Dalis Erkenntnis: „Wer heutzutage Karriere machen will, muss schon ein bisschen Menschenfresser sein“, über 30 Jahre nach seinem Ableben nicht weniger als zu seinen Lebzeiten.

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