Macro Perspective: Gift-Blüten des Spekulationsfiebers

Auf Überschwang folgt Zerknirschung

0
1182
Die neue Käuferschaft ersteigert heute nebst realen Bildern auch NFTs wie nicht existierende Grundstücke, die bereits Millionenwerte repräsentieren, in der Auktion. Bild: PD (www.sothebysrealty.com)

«Ohne Spekulation gibt es keine neue Beobachtung.» Charles Darwin, 1809-1882, Naturforscher, Evolutionsbiologe

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Halten aussergewöhnliche Bedingungen für längere Zeit an, werden sie schnell zur Normalität. So auch die Tiefzins- und QE-Politik der Notenbanken seit 2008. Die Folgen sind unübersehbar: Eine ganze Anlegergeneration kennt nur steigende Kurse und Preise von Finanzaktiva jeder Art. Sie glauben nun, dass es quasi ein Naturgesetz ist, weil sie nie etwas anderes erlebt haben. Doch die «schöne neue Welt» treibt zunehmend auch Giftblüten an den Finanzmärkten – das ultimative Warnsignal für wache Investoren!

Das Jahr 2021 war reich an Überraschungen, und nicht jede Kurs- oder Preisbewegung ist rational nachvollziehbar. Da waren die kollektiven Spekulationen der Robinhood-Trader, die hoffnungslos verfallenen Aktien wie GameStop (GME) zeitweilig neues Leben einhauchten, weiterhin die SPAC-Manie, die viele Initiatoren reich machte, aber für Kleinanleger oft in Tränen endet. Oder auch die Preisexplosionen im Krypto-Universum und der neuerliche evolutionäre Wandel hin zu sogenannten NFTs.

Robinhood Kollektivkäufe – Gamechanger oder heisse Luft?

Ein eindrückliches Beispiel liefert GME. Der Kurs stieg in den letzten beiden Jahren von unter 4 USD auf über 200 USD, und das, obwohl der Umsatz in den letzten beiden Jahren von 8.3 Mrd. USD auf 5 Mrd. USD kollabierte und immer noch Verluste im dreistelligen Millionenbereich geschrieben werden. Die aktuelle Market Cap von fast 9 Mrd. USD bei einem Kurs von 116 USD besteht trotz allerlei Ankündigungen doch hauptsächlich aus heisser Luft.

Der Kurs von GameStop stieg in den letzten zwei Jahren von unter 4 auf über 200 USD. Chart: money-net.ch
Auf und Ab am SPAC-Markt

Ein gutes Beispiel für die Gefahren der SPACs für Kleinanleger bietet die Aktie von Virgin Galactic. Die private Raumfahrtgesellschaft von Sir Richard Branson liess sich von einem SPAC übernehmen und wird nun als Aktie seit zwei Jahren unter dem Kürzel SPCE an der NYSE gehandelt. Hauptsächlich geht es um Weltraum-Tourismus. Für einen zweieinhalb-Stunden-Flug ins All kostet das Ticket 450’000 USD. Bis November 2021 waren 700 Tickets verkauft. Sicherheitsmängel sorgten für Verzögerungen, und eine Anleiheemission musste frisches Kapital beschaffen. Der Kurz stürzte von seinem Hoch bei 62.80 USD noch im Sommer 2021 auf unter 10 USD ab, also den Ausgangskurs.

Preisexplosion bei Kryptos

Inzwischen gibt es zwar über 10’000 Krypto-Währungen, doch die älteste, der Bitcoin, ist und bleibt wohl auch der Massstab. In den letzten zwei Jahren stieg der Preis von 8’000 USD auf in der Spitze 68’925 USD. Die Macro Perspective hat die spekulativen Chancen mehrmals hervorgehoben, insbesondere beim Durchbrechen alter Hochs in den Bereichen 12’000 USD und 20’000 USD. Der Hauptgrund war der zunächst erwartete und sich dann auch materialisierende Einstieg von institutionellen Investoren. Selbst geringe Allokationen sorgten an dem relativ engen Markt für explosive Preissteigerungen.

Die Preisentwicklung des Bitcoin. Chart: coinmarketcap.com/
Krypto-Millionäre sind preistreibender Faktor im Auktionsgeschäft

Ein anderer Aspekt dieser Entwicklung ist die Schaffung einer neuen Klasse von Multi-Millionären. Diese besteht aus den frühen Bitcoin-Käufern, die noch ein paar hundert USD oder sogar weniger bezahlt und die Berg- und Talfahrten durchgestanden haben. Eine zweite Gruppe sind Krypto-Unternehmer, die Handelsplattformen betreiben. Einer dieser Krypto-Millionäre, Justin Sun, hat vor kurzem an einer Auktion von Sotheby´s den überraschend hohen Preis von 78.4 Mio. USD für Alberto Giacomettis Statue „Le Nez“ bezahlt, in Cash. Er ist Gründer der Krypto-Plattform Tron.

Rekordumsätze am Kunst- und Collectibles-Auktionsmarkt

Und das ist kein Einzelfall. Wie die beiden führenden internationalen Auktionshäuser Christie´s und Sotheby´s berichten, sind Krypto-Millionäre nach den Käufern aus Asien zu einer wichtigen Kundengruppe avanciert. «Das Jahr 2021 war von Rekordergebnissen in der 277-jährigen Geschichte von Sotheby´s geprägt», so CEO Charles Stewart. Bis Mitte Dezember 2021 erreichte der Auktionsumsatz mit 7.3 Mrd. USD einen Rekordwert. Der Stau am Kunstmarkt in 2020 durch das Auftreten der Pandemie habe das Interesse gesteigert. Zudem seien am Markt gesuchte Kunstwerke in hoher Qualität angeboten worden, was neue Käuferkreise mobilisiert habe. Das Kauf- und Sammlerinteresse ist nahezu unbeschränkt. Auf Moderne und Zeitgenössische Kunst entfällt zwar das grösste Interesse, doch inzwischen werden auch Luxusgüter wie Handtaschen, Uhren, Wein, Bücher und Manuskripte oder NFTs nachgefragt. Sogar Erstausgaben von Comic-Heften erzielen Traumpreise. Anfang Jahr wechselte eine Erstausgabe des Comic-Helden «Hulk» für eine halbe Mio. USD den Besitzer! Alle Kategorien von «Collectibles» erzielten historische Rekordumsätze.

NFTs locken Millennials zu Auktionen

NFTs sind neu. Bei der ersten von Sotheby´s durchgeführten NFT-Auktion wurden 16.8 Mio. USD in drei Tagen umgesetzt. Darunter befand sich auch der Quellcode des World Wide Web! Ein Kunstwerk des Digital-Künstlers Mike Winkelmann, bekannt als «Beeple», erzielte bereits im März 2021 einen Preis von 69 Mio. USD. Beeple ist damit einer der drei höchstbewerteten lebenden Künstler! Bei NFTs sind 78% der Käufer Auktionsneulinge, so Sotheby´s. Seit November werden von dem Auktionshaus auch Krypto-Währungen als Zahlungsmittel akzeptiert. Die neuen Käufer sind jung und meist unter 40 Jahren. Ihr Anteil an den Kunden stieg bei Sotheby´s 2021 um 187%. Millennials haben 50% mehr gekauft als im Vorjahr und sind bereits auf dem besten Weg, um die Baby Boomers als Hauptkäufergruppe abzulösen.

IPO-Kandidat Sotheby´s

Für Kunst als Anlage spricht im gegebenen Umfeld, dass sie nicht vervielfältigbar ist und daher einen guten Hedge gegen Inflation bietet. Zudem ist der Kunstmarkt angesichts der Vielzahl von neuen Reichen, Super-Reichen und Multi-Milliardären wenig anfällig für ausgeprägte Baissen, wie sie an den Wertpapierbörsen und an den Immobilienmärkten zu erwarten sind. Wer einen Warhol, einen Van Gogh oder Rembrandt besitzt, muss in aller Regel nicht verkaufen. Das steht im krassen Gegensatz zu mit Fremdkapital gehebelten Anlagen an den liquideren Finanzmärkten. Das ist auch ein guter Zeitpunkt, um Sotheby´s an die Börse zurückzubringen. Der Mehrheitsaktionär Patrick Drahi, ein französischer Multi-Milliardär mit Wohnsitz in der Schweiz, soll das IPO für 2022 planen. Erst 2019 war Sotheby´s von der Börse genommen worden.

Ursachen und Auswirkungen der unkonventionellen monetären Politik

Das Phänomen der exponentiell steigenden Preise von Collectibles hat Ursachen und Auswirkungen. Zu den Ursachen zählt in erster Linie die unkonventionelle Notenbankpolitik. Das enorme Geldmengenwachstum fliesst nur zu einem sehr geringen Teil über Investitionen in die Realwirtschaft. In den meisten Industrien sind Aktienrückkäufe viel lohnender als Investitionen. Das Beste dabei: Das Geld kostet seit Jahren (fast) nichts. Die Hauptgewinner sind die Hauptaktionäre, die immer reicher werden, nur dadurch, dass die von der Modern Monetary Theory getragene Liquiditätsflut zu immer höheren Bewertungen führt. In dem so geschaffenen Selbstbedienungsladen der Super-Reichen, die oft von Eitelkeiten und Selbstverliebtheit, wenn nicht Ego-Manie, geleitet sind, schiessen die Gift-Pilze zunehmend schnell und zahlreich aus dem Boden – und inzwischen auch in der virtuellen Welt.

Exzesse und historische Lektionen

Diese giftigen Beispiele sind für 99% der Menschheit schwer nachvollziehbar, weil sie mangels Vermögen aus diesem Monopoly-Spiel ausgeschlossen sind. Ein Ferrari von 1958 erzielte einen Preis von 6 Mio. USD. Ein Fass Macallan Whisky von 1991 wurde für 2.3 Mio. USD ersteigert. Das entspricht einem Preis von 5’700 USD pro Flasche! Natürlich ist ein Vermögenswert immer das wert, was ein Käufer zu zahlen bereit ist. Ein seltener Sportwagen oder ein Whiskyfass sind zumindest noch real, doch die schöne neue Welt der NFTs schafft nun auch gänzlich virtuelle Aktiva wie in der realen Welt nicht existierende Grundstücke, die bereits Millionenwerte repräsentieren. 4 Mio. USD für eine Privatinsel im Metaverse? Eine halbe Mio. USD, um dort Nachbar von Snoop Dogg zu werden? Die Muster erinnern jedenfalls stark an historische Episoden wie die Tulpenzwiebel-Manie, die grossen Kanal-Spekulationen oder die Tauchglocken-Hausse. Alle endeten in Tränen.

Ungleichheit tötet

Die Welt scheint endgültig aus ihren Fugen gerissen. Denn das leichte reich und noch reicher werden für die 0,001% oder 1%, je nachdem, hat eine zunehmende Ungleichheit zur Folge. Eine aktuelle Studie der NGO Oxfam mit Titel «Inequality kills» führt die praktischen Auswirkungen vor Augen. Während sich das Nettovermögen der zehn Mega-Reichen seit Beginn der Pandemie verdoppelt hat, sind 99% der Weltbevölkerung schlechter als zuvor gestellt. Das betrifft die Finanzen, aber auch die Überlebenswahrscheinlichkeiten. So sind beispielsweise Bangla Deshis im UK um den Faktor 3,5 häufiger als weisse Briten während der Pandemie gestorben.

Degeneration von Medien

Zu den Vorschlägen von Oxfam zählt unter anderem die «Wealth Tax», die ja nicht unbekannt in der Geschichte ist. Selbst Multi-Milliardäre wie Warren Buffett, Abigail Disney uvm. fordern diese, um der wachsenden Ungleichheit zu begegnen. Eine bekannte Schweizer Tageszeitung titelt dagegen «Gefährliches Kesseltreiben» mit Bezug auf die durchaus vernünftigen Forderungen der Oxfam-Publikationen. Das zeigt auch, wie weit die Medien allgemein von ihrem Selbstverständnis als «Vierte Macht» entfernt sind, und sich stattdessen als Wasserträger der Nutzniesser einer fehlgeleiteten Notenbank- und Steuerpolitik betätigen.

Ist der Zyklus wirklich tot?

Fortschritt ist wichtig und sollte der ganzen Menschheit und auch der Gesundheit und Erholung der Öko-Systeme unseres bedrohten Planeten dienen. Doch heute leben wir zunehmend in einer Kunstwelt, angefangen bei der Monetären über die Digitale bis hin zur Virtuellen. Ähnlich wie 1999/2000 ist auch immer öfter von ausgewiesenen Experten zu hören, dass der Zyklus tot ist und nun eine neue Ära des kontinuierlichen strukturellen Wachstums begonnen hat. Rohstoff- und Produzentenpreise, Verschuldungsquoten und reale Kaufkraft haben keine Aussagekraft mehr, stattdessen werden künstliche Parameter erfunden, wie damals «month-on-month eyeball growth» bei digitalen Geschäftsmodellen.

Digitale Geistesverwirrung

Eines der Kernprobleme, die mentale Gesundheit betreffend, ist die enorme Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne der Zeitgenossen. Kaum noch jemand ist in der Lage, zusammenhängenden Ausführungen über mehr als 20 Sek. zu folgen. Die digitale Dauerberieselung, das «always online» sein, das suchtartige «glued-to-the-screen» sein, die gleichzeitige Aktivität auf einer wachsenden Anzahl von digitalen Plattformen sind die Ursache hierfür. Professoren beklagen, dass die Studenten keine Bücher mehr lesen, sondern sich oberflächlich im Netz informieren, und ähnlich verhalten sich die neu an die Börse gekommenen Anleger. Gefühle, Einflüsterungen, unbewusste Abneigungen und Vorlieben blenden das oft gar nicht vorhandene Urteilsvermögen. Die natürliche Herden-Reaktion an den Bruchstellen des Strukturwandels ist, dass die einen in tradierte Wertesysteme wie Nationalismus, Mythologie oder Religion zurückfallen, die anderen identifizieren sich heutzutage mit dem Metaverse und finden sich damit ab, dass die digitale Existenz nunmehr ihre eigentliche ist, inklusive der impliziten Überwachung und Steuerung durch Datenkraken, Regierungen und mächtigen Untergrund-Organisationen, wie der Sturm auf das Kapitol vor einem Jahr belegt.

Doch am Ende hat der Evolutionsbiologe Darwin mit seiner Erkenntnis recht: «Alles, was gegen die Natur ist, hat auf die Dauer keinen Bestand.» Und das gilt auch und gerade für Anlagen.

Kommentar verfassen