Macro Perspective: KI – und die Büchse der Pandora

McKinsey-Studie sieht Produktivitätsgewinne von bis zu 4.4 Billionen USD jährlich

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«Die Büchse der Pandora», dargestellt im Gemälde vom niederländischen Maler Sir Lawrence Alma-Tadema (1836-1912)

«Die allgemeine Steigerung der technischen Leistung geht paradoxerweise mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher.» Stanislaw Lem, 1921-2006, Schriftsteller, Philosoph, Kulturkritiker

Was man auch von der noch wenig greifbaren Entwicklung halten mag – sie wird sich weiter beschleunigen. Die Auswirkungen sind vielfältig und kaum in ihren Konsequenzen durchschaubar. Eher hilflosen Aufrufen zu einer «Pause» stehen militärische Zwänge und Produktivitätsgewinne in ungeahnter Höhe gegenüber. Und was die Produktivität steigert oder den Sieg bringt, das wird gemacht.

So ganz neu sind Anwendungen der Künstlichen Intelligenz, kurz KI, ja nicht. Durch Training und Lernen der KI konnte beispielsweise das inzwischen verstorbene Super-Hirn Stephen Hawking trotz starker Einschränkungen durch Krankheit weiter forschen, kommunizieren und lehren. Dennoch war und ist Hawking derjenige, der mit den richtigen und klar formulierten Argumenten die Gefahren früher als andere benannt hat. «Anders als unser Intellekt verdoppeln Computer ihre Leistung alle 18 Monate. Daher ist es eine reale Gefahr, dass sie Intelligenz entwickeln und die Welt übernehmen.»

Im Bann der KI

Gegenwärtig befindet sich die Börse jedoch im Bann der KI. Bereits nach dem ersten Quartal des Jahres führte JP Morgan mehr als die Hälfte der Gewinne und Verluste an Marktkapitalisierung an den US-Börsen auf KI-Effekte zurück. Der Trend hat sich auch im zweiten Quartal verfestigt. Zwischenzeitlich hat JP Morgan einen KI-basierten Investment Advisor entwickelt, was ein Vorbote für weitere Freisetzungen sein kann. Die Börse agiert jedenfalls einmal mehr als Antizipationsmechanismus, der Entwicklungen in der Realwirtschaft vorwegnimmt. Die Hausse wird im aktuellen Stadium hauptsächlich von der Gier getrieben.

Chart Nvidia
Kursverlauf der Aktie von Nvidia. Chart (ytd/USD): google.com

Irrationaler Überschwang?

Ausmass und Tempo zeigen deutlich, dass es um etwas Grosses geht. Etwas mit dem Potenzial, die Welt, wie wir sie kennen, fundamental zu ändern. Dennoch, auch diese Hausse scheint angesichts der erreichten Bewertungen wie bei Nvidia von über 1 Billion USD und einem KUV von 40 von «irrationalem Überschwang» getrieben. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Wenn das Erinnerungsvermögen intakt ist, kommen zwangsläufig die Krypto-Manie der letzten Jahre und das Internet-Fieber um die Jahrtausendwende in den Sinn. Kennzeichnend sind jeweils extreme Volatilität sowie hohe Wertsteigerungen – und am Ende Ernüchterung und Wertverfall. Das Über-Investment schafft erst die Voraussetzungen für die nachfolgende Pleitewelle, weil naturgemäss nur wenige Unternehmen die hohen Erwartungen auf Marktführerschaft auch erfüllen können. Amazon ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass der Gewinner im Wettlauf um die Marktführung alles bekommt und weiterhin dafür, dass die Mehrheit der Anleger die langfristige Überlegenheit des Konzepts erst erkennt, wenn die grössten Gewinne bereits gelaufen sind.

Die Aktie von Amazon entwickelte sich über lange Jahre sehr moderat, bis sie dann zum Höhenflug ansetzte. Chart (USD): google.com

KI-Radio und andere Anwendungen

Abgesehen von den teils diffusen Schlagzeilen, die beispielsweise ChatGTP produziert, sind erste praktische Auswirkungen bereits im Alltag aufzuspüren. Der Helgoländer Radio-Sender «The Rock» war eingestellt worden. Seit März 2023 sendet er wieder, aber dank KI ohne Menschen. Es ist das erste KI-Radio in Deutschland, und weitere werden folgen. Sprecher sind generell von der Entwicklung bedroht, auch wenn es bislang noch stark nach Bahnhofsdurchsage klingt. Hörbücher, Internet-Learning, Schulungen, Kunden-Dialog – die Anwendungsfelder sind weit. Ein neuer Trend sind auch KI-generierte Modelle für Mode und Werbung, für die bereits erste spezialisierte Agenturen entstehen. Selbst die Kirche verschliesst sich nicht. Viele Geistliche nutzen mittlerweile KI für ihre Predigten. Der Mensch sei das Werk Gottes und folglich auch die vom Menschen geschaffene KI, so ein klerikaler KI-Enthusiast.

Der Rationalisierungsfaktor

Damit zeigt sich schon ein Muster. Wo der Kostenfaktor Mensch wegrationalisiert werden kann, wird es auch geschehen. KI kann bei Big-Data-Anwendungen besser und schneller globale Patentprüfungen durchführen oder Symptome und Diagnosen von Krankheiten vergleichen. Hier steigen Produktivität und Qualität. Die gutbezahlten Arbeitsplätze in der medizinischen Forschung oder als Patentanwalt allerdings gehen verloren. Zumindest, wenn die erhöhte Produktivität sich auch in den Gewinnzahlen niederschlagen soll.

Kreativität und Innovation

Am anderen Ende des Spektrums werden die so frei werdenden Ressourcen sinnvoller eingesetzt. Der Geistliche findet mehr Zeit, um seine Schäfchen zu betreuen oder Kranke zu besuchen. Ob die Qualität der Predigten durch KI gewinnt und die Herde zu vergrössern vermag, das müssen die Gläubigen beurteilen. Der Unterschied ist, dass der Geistliche von der Kirche bezahlt und als Seelen-Hirte nicht durch KI ersetzt wird. Wo der Kostenträger aber Rentabilität erzielen will oder muss, gelten die Gesetze des Marktes. Allerdings lehrt die lange Geschichte der Subventionen für Agrarwirtschaft, Fischerei oder Kohle-Bergbau, dass politisch bedingte Marktverzerrungen zugunsten mancher Anspruchsgruppen durchaus Tradition haben.

Ära der Fälschungen

Über die gesellschaftlichen Auswirkungen der stürmischen Entwicklung ist bisher nur wenig gesprochen worden. In der EU wurde immerhin beschlossen, dass KI-generierte Inhalte klar erkenntlich als solche zu kennzeichnen sind. Fake-Statements per Video von bekannten Persönlichkeiten machten bereits mehrmals die Runde. Seriöse Medien müssen nun immer erstmal die Originalität überprüfen, niemand will mit einer «Mega-Ente» ins Fettnäpfchen treten.

Produktivität und das Primat der Gewinnmaximierung

McKinsey und die meisten anderen hörbaren Stimmen loben, dass die erneute Steigerung der zuletzt schwächeren Produktivitätsentwicklung durch generative KI Freiräume schaffen und Ressourcen in kreative und innovative Tätigkeiten lenken kann. Das klingt gut und für viele auch überzeugend. Das Ausmass des KI-getriebenen Strukturwandels lässt jedoch auch andere Folgerungen zu. Der Einzelhandel beispielsweise mit seinen dünnen Gewinnmargen wird die Einsparmöglichkeiten nutzen und nur zu einem geringen Teil die Ressourcen in Innovation und Kreativität lenken. Die klassischen Medien wie Zeitungen, Magazine, Film und Fernsehen stehen durch digitale Konkurrenten schon lange unter Druck. Der führt jedoch kaum zu Kreativität und Innovation, sondern zu einem Schrumpfungsprozess, bei dem so lange wie möglich so viel wie möglich aus den Unternehmen herausgepresst wird. Investigative Journalisten, brillante Verleger, pluralistische Meinungsvielfalt oder qualitativ ansprechende TV-Programme – das sind, von Ausnahmen abgesehen, leider nicht die Folgen der Entwicklung!

Juristische, ethische und existenzielle Fragen

Die Kernfragen sind ungeklärt. Hat die Gesellschaft als Ganzes einen Vorteil oder werden, wie immer, die Besitzer der Maschinen, die dieses Mal mit kontinuierlich steigender Intelligenz ausgestattet sind, allein profitieren? Was machen die Sprecher, Forscher, Lehrer? Weiterhin sind juristische Fragen offen. Wer haftet für Schäden, die von intelligenten Maschinen wie autonom fahrenden Automobilen angerichtet werden? Und ethische Fragen. Was, wenn eine intelligente Maschine von Menschen an der Ausübung der Primärfunktion behindert wird und diese den Störer eliminiert? Den meisten Zeitgenossen, inklusive den Entscheidungsträgern, ist noch nicht klar, was «Künstliche Intelligenz» in der Konsequenz bedeuten kann. Es handelt sich nicht um kontrollierbare elektrische Zahnbürsten oder Fräsapparate, sondern um lernende und einem strikt binären Protokoll folgende vernetzte Einheiten. Dass diese ein eigenes Bewusstsein entwickeln werden, ist mehr als wahrscheinlich. Und Intelligenz heisst ja im Wesentlichen Problemlösefähigkeiten zu entwickeln. Delfine, Keas oder Kopffüsser gelten als intelligent, weil sie Techniken anwenden oder Werkzeuge herstellen, um ans Ziel zu kommen. Eine wirklich intelligente «Künstliche Intelligenz», die logisch vorgeht, würde bald erkennen, dass unsere Species irrational agiert, von unbewussten und teils selbstzerstörerischen Motiven gesteuert wird, die Ressourcen verschwendet und den Lebensraum kontaminiert.

Offener Brief von Future of Life

Gerade, weil die KI aber von Menschen geschaffen ist, wird sich nicht nur das Beste der menschlichen Zivilisation, sondern eben auch alles Übel des menschlichen Zeitalters übertragen. Das wird besonders deutlich im militärischen Bereich. Es ist keine neue Erkenntnis, dass viele Fortschritte für die zivile Gesellschaft aus der Waffentechnologie erwachsen sind. Eigentlich sind autonome Waffensysteme gebannt. Dennoch wird in den USA, in Europa, China, Russland und wohl noch weiteren Ländern daran gearbeitet. Am 22. März publizierte die Initiative «Future of Life» einen offenen Brief mit mittlerweile mehr als 30’000, zum Teil prominenten, Unterzeichnern, der eine sechsmonatige Pause bei der Entwicklung von fortgeschrittenen generativen KI-System fordert, um sicherzugehen, «dass ihre Auswirkungen positiv und ihre Risiken überschaubar sind».

Vorne bleiben oder Führung abgeben?

Daraufhin sagte Axel Karp, der CEO von Palantir Technologies, in einem BBC-Interview, dass die nach einer Pause Rufenden kein Produkt hätten. Eigentlich geht es nach seiner Ansicht gar nicht um ChatGTP oder ähnliche Systeme, sondern darum, sowohl «auf kommerziellen Gebieten wie auf dem Schlachtfeld zu gewinnen.» Das KI-Wettrüsten wird nicht aufhören, wenn wir langsamer werden, so Karp. Palantir beliefert Regierungen und Unternehmen mit Software, und einige der Erfolge der ukrainischen Armee sind auf den Einsatz der Palantir-Technologien zurückzuführen. Die Frage sei, ob wir vorne bleiben oder die Führung abgeben.

Chart Palantir Technologies
Kursentwicklung bei Palantir Technolgies. Chart (ytd/USD): google.com

Die Büchse der Pandora

Und so zeigt sich schnell, dass in der gegenwärtigen geopolitischen Spannungsphase Theorien, Ideale und wohlgemeinte und durchaus begründete Aufrufe wohl wenig an der unaufhaltsamen Entwicklung der KI ändern werden. Die Büchse der Pandora ist damit geöffnet. In ihr haben Zeus und die olympischen Götter nach dem Dichter Hesiod alle Übel der Welt untergebracht – und die Hoffnung. Die Büchse der Pandora war ein durchtriebener Racheakt des mythischen Göttervaters gegen die Menschheit, nachdem der Titan Prometheus, der vorher Bedenkende, das Feuer der Götter gestohlen hatte, um es den Menschen zu schenken. Doch sein Titanen-Bruder Epimetheus, der nachher Bedenkende, schlug die Warnungen vor Geschenken von Zeus in den Wind. Bevor die Büchse der Pandora geöffnet wurde, kannte die Menschheit nach der Mythologie keine Krankheit, keine Mühen, nichts Schlechtes. Dann jedoch entwichen alle Laster und Untugenden, die aber der Mensch dank der Hoffnung zu ertragen und erleiden gelernt hat.

Zum Thema und der vielschichtigen Problematik passt das zeitlose Zitat von Stanislaw Lem: «Wir wissen also nicht, ob eine Logokratie der untereinander zerstrittenen Experten besser wäre als die Herrschaft der geistig Minderbemittelten, der wir heute unterworfen sind. Die sich ständig verschlechternde Qualität der führenden politischen Eliten ist eine Folge der wachsenden Komplexität unserer Welt. Weil niemand diese Welt voll erfassen kann, und wenn er noch so weise wäre, drängen sich jene zur Macht, die sich darüber keine Sorgen machen.»

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