Das kürzlich in der NZZ erschienene Interview mit der Harvard Professorin und früheren CS-Verwaltungsrätin Iris Bohnet hat mich ratlos zurückgelassen. Kein Wort zu ihrer Verantwortung in der CS-Krise, kein Eingeständnis von Fehlern und auch keine Entschuldigung bei Kunden, Mitarbeitenden und Aktionären der untergegangenen Schweizer Grossbank!
In diesem Zusammenhang fiel mir ein Portrait ein, das ich 2011 (!) für eine Spezialbeilage «Verwaltungsräte» in der NZZ über den Wirtschaftsanwalt und damaligen Multi-Verwaltungsrat Christoph M. Müller geschrieben habe. Er spricht darin von einer «organisierten Verantwortungslosigkeit» und nennt wichtige Eigenschaften für einen Verwaltungsrat. Auch wenn die «Krise» 2011 eine andere war, so haben die meisten Aussagen auch 14 Jahre später an Aktualität nicht verloren. Daher publizieren wir den Beitrag nochmals in Originallänge auf schweizeraktien.net.
Übrigens: Christoph M. Müller und seine Frau Sibylla haben nach 25 Jahren kürzlich ihr Sponsoring für das renommierte Lucerne Festival zurückgezogen. Sie hatten verlangt, dass die zwei ehemaligen CS-Verwaltungsräte Walter Kielholz und Urs Rohner den Stiftungsrat verlassen. Rohner trat zurück, an Kielholz wurde festgehalten. Die Müllers zogen die Konsequenzen und verlängerten ihr Sponsoring – immerhin ein mittlerer sechsstelliger Betrag – nicht mehr.
«Multi-Verwaltungsrat mit klarer Meinung»
Wenn Christoph M. Müller über die Perspektiven für die Wirtschaft spricht, dann wird er nachdenklich und zurückhaltend. Denn angesichts der sich auftürmenden Staatsschulden in den Euroländern verliert der Wirtschaftsanwalt und mehrfache Verwaltungsrat seinen grossen und mitreissenden Optimismus. «Im Gespräch mit Firmenchefs und Wirtschaftswissenschaftlern in der Eurozone habe ich gespürt, dass auch ihnen die Ideen für Lösungen der aktuellen Krise ausgehen», sagt er besorgt. Müller ist seit 2004 Mitglied des zentralen Beirats der deutschen Commerzbank AG, an der seit der Finanzkrise der deutsche Staat mit 25% beteiligt ist.
In der Schweiz präsidiert Müller den Verwaltungsrat der Immobiliengesellschaften Espace Real Estate Holding und der Warteck lnvest, zu deren Grossaktionären er auch gehört. Doch einen wichtigen Teil seiner Zeit nimmt das Mandat als Mitglied des Gesellschafterausschusses und des Aufsichtsrats bei der deutschen Vaillant Group ein, einem Familienunternehmen mit über 12‘000 Mitarbeitenden, das in den Bereichen Heizungs-, Lüftungs-, und Klimatechnik aktiv ist.
Vielfältige Mandate liefern Überblick
Durch die Vielfalt seiner Mandate sehe er in unterschiedliche Branchen hinein, die wiederum wichtige Schlüsse für seine Verwaltungsratsmandate zuliessen, so Müller.
Einblick hat der Schweizer über sein enges Netzwerk in der Wirtschaft auch in die Verwaltungsratsarbeit anderer Unternehmen. Und so, wie er die Orientierungslosigkeit in der aktuellen Krise spürt, sieht er auch die immer schwieriger werdende Lage in den Verwaltungsräten. Er spricht von einer «organisierten Verantwortungslosigkeit», die in den letzten Jahren immer mehr um sich gegriffen habe, und meint damit nicht nur die Verwaltungsräte, sondern auch andere Führungskräfte in Wirtschaft und Politik. «Der Wille zur Machterhaltung und materiellen Besitzstandswahrung in Politik und Wirtschaft führte zu anpasserischem Verhalten», resümiert Müller und fügt hinzu, dass auf warnende Stimmen zu wenig gehört wurde. «Kollateralschäden für den Staat und seine Bürger wurden fahrlässig in Kauf genommen», ergänzt er.
Unabhängigkeit wichtigster Punkt
In vielen Unternehmen zeige sich diese «organisierte Verantwortungslosigkeit» darin, dass die Einzelverantwortung schrittweise beseitigt wurde. «lmmer mehr Task Forces, Projektgruppen und Steuerungsausschüsse in den Firmen führen dazu, dass letztlich niemand mehr die Verantwortung trägt und sich bei Fehlentscheidungen hinter der Gruppe verstecken kann», ärgert sich der Jurist. Hinzu komme, dass Aufsichts- und Kontrollorgane nicht immer gut vorbereitet seien, zu wenig Zeit hätten und zu wenig hinterfragen würden.
Doch was sollte ein Verwaltungsrat mitbringen, wenn er ein solches Amt annehmen möchte? Müller nennt als ersten Punkt die Unabhängigkeit. «Damit meine ich wirtschaftliche, intellektuelle und emotionale Unabhängigkeit», präzisiert der MultiVerwaltungsrat. Zu oft spielten wirtschaftliche Interessen eine Rolle, wenn ein Mandat angenommen werde. «Wer auf das Verwaltungsratshonorar angewiesen ist, kann nicht mehr frei entscheiden», so Müller. Gleiches gelte auch für Verwaltungsratsmandate, die nur aus Prestigegründen angenommen würden. Egozentriker und Selbstdarsteller hätten in einem Verwaltungsrat nichts verloren. Vielmehr sollten Mitglieder eines Verwaltungsrates den Mut haben, Dinge immer und immer wieder zu hinterfragen. Auch emotionale Intelligenz werde dabei zunehmend wichtiger. «Es kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Da muss sich ein Verwaltungsrat vor eine Mannschaft stellen können und diese auch motivieren, problematische Zeiten gemeinsam zu meistern», meint Müller.
Kritische Fragen gewünscht
In den Schweizer Verwaltungsräten kritisiert Müller die immer noch vorhandenen Kreuzverbindungen innerhalb der Wirtschaft. Diese verhinderten, dass kritische Fragen gestellt würden. Im Ausland sei es dagegen üblich, dass branchenfremde Personen in ein Aufsichtsgremium bestellt würden, um so eine völlig andere Sicht der Dinge zu erhalten. «Dies stärkt die Diskussion und beeinflusst die Meinungsbildung positiv.»
An der aktuellen Krise sieht der Optimist Christoph M. Müller auch etwas Positives. Er finde, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Versorgermentalität entwickelt habe, die wenig Motivation zur Leistung biete. Vielleicht ändere die Krise etwas daran, in dem sie uns nicht nur hellhöriger werden lasse, sondern Werte wie Leistungswillen, Integrität, Respekt und Ehrlichkeit wieder in den Vordergrund rücken.
(Quelle: Swiss Equity magazin Special «Verwaltungsräte», NZZ Verlagsbeilage, erschienen am 8. Dezember 2011)
Die wichtigsten Eigenschaften für einen Verwaltungsrat
Unabhängigkeit
Wirtschaftlich, intellektuell und emotional – nur wer frei von Abhängigkeiten ist, kann auch frei entscheiden.
Verantwortungsbewusstsein
Schluss mit «organisierter Verantwortungslosigkeit» – echte Führung bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Mut zur kritischen Hinterfragung
Keine Angst vor unbequemen Fragen – wer nur mitläuft, verliert den Überblick.
Emotionale Intelligenz
Gerade in Krisenzeiten braucht es Menschen, die Teams mit Empathie und Stärke führen können.
Branchenübergreifendes Denken
Diversität im Gremium – externe Perspektiven fördern bessere Entscheidungen.
Integrität & Werteorientierung
Leistungswille, Ehrlichkeit, Respekt und Haltung – das sind die wahren Erfolgsfaktoren.