Im Brennpunkt: Medizinische Implantate – Die dunkle Seite

Mögliche Risiken für Investoren, den Standort Schweiz und Patienten durch Implantate-Skandale

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Die Medizintechnik ist eine Industrie, die ihre Investoren glücklich macht und das Leben von Millionen Patienten rettet, erhält und oft auch erst wieder lebenswert macht. Der technologische Fortschritt und die demografische Entwicklung beflügeln die Wachstumsraten. Doch eine Vielzahl von „Rückrufen“, Komplikationen und auch Todesfällen zeigt die Schattenseiten der teilweise übereilt erscheinenden Genehmigungspraxis. Die Industrie ist jedoch mächtig, und Berichte sind eher selten. Medtech-Investoren sollten jedoch auch die Risiken kennen.

Die gute Nachricht vorweg: Die an der SIX kotierten Hersteller von Implantaten sind nicht von den zahlreichen Skandalen rund um Implantate betroffen. In den letzten Jahren war auf schweizeraktien.net wiederholt die Branche betrachtet worden  mit überwiegend positiver Einschätzung, aber auch mit dem Hinweis auf die erreichten hohen Bewertungen. Der Grund, warum die Schweizer nicht betroffen sind, ist, dass die Probleme nicht bei Hörgeräten wie von Sonova oder Zahn- und Kieferimplantaten wie von Straumann und Medartis aufgetreten sind, sondern vorwiegend bei Brust-, Hüftgelenk- und kardiologischen Implantaten. Eine Ausnahme unter den kotierten Schweizern bildet Roche Diagnostics. Doch es ist einleuchtend, dass die grossen Hersteller wie General Electric, Medtronic oder DePuy zwangsläufig in absoluten Zahlen mehr Rückrufe verzeichnen, auch wenn durch Qualitätskontrollen die Gesamtstatistik unauffällig bleibt.

Zulassungsverfahren in der Kritik

Keine Frage, die positiven Effekte der Entwicklungen in der Medizintechnik überwiegen, sogar eindeutig. Im Gegensatz zu neuen Arzneimitteln, die erst rigorose und teure Studien durchlaufen müssen, um zu beweisen, dass sie wirksam sind und nicht schädlich, gelten bei Medizinprodukten allerdings vergleichsweise geringe Anforderungen, um eine Marktzulassung zu erhalten. Umfangreiche Studien, die für Pharmaunternehmen bis zu 10 Jahre in Anspruch nehmen können, sind bei Herzschrittmachern und Brustimplantaten nicht erforderlich. Sofern bereits eine CE (Conformité Européenne) für ein vergleichbares Produkt vorliegt, was meistens der Fall ist, ist es sogar mehr oder weniger eine reine Formsache.

Masters of Lobbying

Die Industrie ist wichtig und auch mächtig. Sie zählt zu den geschicktesten und einflussreichsten Lobbyisten und verfügt mit Ärzten, Kliniken und Forschungsinstituten über ein weitreichendes Netz von Beziehungen, die nicht zuletzt über Verbände auch weit in die Politik hineinreichen. Die eher geringe Regulierung kommt nicht von ungefähr. Während der letzten Jahre sind nun jedoch weltweit viele Missstände und auch Todes- und Schadensfälle von Patienten bekannt geworden, über die in den Medien aber wenig oder gar nicht berichtet wurde.

Ein undankbares Thema für werbefinanzierte Medien

Daher hat sich das International Consortium of Investigational Journalists des durchaus relevanten Themas angenommen und vor einem Jahr eine weitreichende Ermittlung in Gang gesetzt. Das ICIJ hatte sich zuvor u.a. der „Panama Papers“ und der „Paradise Papers“ angenommen. Mit beträchtlichen Folgen. Es ist davon auszugehen, dass der problematische Themenkomplex Implantate über die kommenden Jahre mehr Aufmerksamkeit gewinnen wird mit Blick auf Klagen Betroffener oder deren Interessenvertretungen. Das könnte auch Auswirkungen auf das Zulassungsprozedere haben, das scheinbar nicht immer dem Schutz der Patienten angemessen Rechnung trägt. Denn es geht um sehr viel Geld.

Herzschrittmacher – ein lukrativer Markt

Allein der globale Markt für Herzschrittmacher ist mittlerweile auf 700’000 Operationen pro Jahr gewachsen. Das Umsatzvolumen wird für 2021 auf 12 Mrd. USD geschätzt. Marktführer ist Medtronic, ein 1949 in einer Garage gegründetes Unternehmen, das heute einen Börsenwert von 125 Mrd. USD auf die Waage bringt und im Geschäftsjahr per April 2018 einen Umsatz von 30 Mrd. USD generierte. Die Nettogewinnmarge liegt bei über 10%. Der Innovationsführer hat in andere Bereiche expandiert, sieht sich allerdings auch wachsendem Wettbewerb ausgesetzt.

Während Medtronic selbst Gegenstand einer vertieften Untersuchung des ICIJ ist, die wirklich lesenswert ist, weil sie Wissenswertes zu den Usancen in der Industrie liefert, zeigt ein Blick auf den Wettbewerber Nanostim, was alles schieflaufen kann. Wie und warum. Wirklich shocking!

Keine internationale Abstimmung bei Innovationen

Herzschrittmacher der Firma Nanostim. Bild: massdevice.com

Die kleine kalifornische Gesellschaft Nanostim hatte erfolgreich einen neuartigen Herzschrittmacher entwickelt und an Schafen getestet. Die Gesellschaft wurde im Verlauf von St. Jude Medical übernommen, die ihrerseits anschliessend von Abbott aufgekauft wurde. In den USA hatte die Zulassungsbehörde FDA das Gerät nicht für den Gebrauch am Menschen zugelassen. 2013 wurde in Deutschland die Erteilung der CE verweigert, vor allem, weil das neue Gerät bis zu diesem Zeitpunkt nur an Schafen getestet worden war. Doch 2014 erhielt Nanostim die CE im Vereinigten Königreich durch die British Standards Institution. Eine dreimonatige Studie hatte 33 Patienten umfasst, von denen einer bei der Implantation gestorben war. Der neue Schrittmacher war nur einen Zehntel so gross wie seine Vorgänger, die Batterie sollte 10 Jahre halten und leicht zu entfernen sein. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, denn auch Medtronic, die Nummer 1, plante, einen ähnlichen neuartigen Schrittmacher am Markt einzuführen.

Voreilige Zulassung mit Folgen

2014 häuften sich bei einer Folgestudie an 200 Patienten die Schwierigkeiten, sechs Todesfälle waren zu beklagen, die Studie musste abgebrochen werden. Bis 2016 waren im UK insgesamt 1’423 Nanostim Herzschrittmacher implantiert, als St. Jude, der Besitzer zu diesem Zeitpunkt, eine Sicherheitswarnung herausgab und von weiteren Implantationen abriet. Bei 34 Patienten hatte die Batterie des Schrittmachers vorzeitig nicht mehr funktioniert. In einem bekannt gewordenen Fall konnte die Batterie nicht operativ entfernt werden, und stattdessen musste ein funktionierender Schrittmacher zusätzlich implantiert werden. Weitere Schwierigkeiten traten bis 2017 auf. Abbott, inzwischen Besitzer von St. Jude und somit Nanostim, gab eine weitere Sicherheitswarnung heraus. In drei Fällen hatte sich ein kleiner Knopf abgelöst und war im Herz gewandert, und in einem Fall in die Arterie eingedrungen.

Verschärftes EU-Zulassungsverfahren ab 2020

Es gibt zahlreiche weitere Problemfelder, u.a.in den Bereichen Hüft- und Kniegelenke, Brustimplantate, Vaginalgewebe, Kontrazeptiva uvm.; der Nanostim-Fall zeigt aber stellvertretend, wie in der Industrie mit einem globalen jährlichen Umsatzvolumen von über 400 Mrd. USD mit harten Bandagen gekämpft wird, und dies leider nicht immer zum Nutzen der Patienten. Für Brancheninsider sind die Patienten auch zu einem Teil Versuchskaninchen. Die EU hat vor diesem Hintergrund eine Verschärfung des Zulassungsverfahrens von medizinischen Geräten beschlossen, die ab 2020 zur Anwendung kommt.

Keine Auswirkungen an der Börse

Kursverlauf der Medtronic-Aktie in USD. Quelle: moneynet.com

An der Börse sind noch keine Effekte festzustellen. Die Medtronic-Aktie beispielsweise liegt nur um 3% unter ihrem All-Time High von 100 USD. Die Schweiz ist betroffen als wichtiger Standort und Europasitz vieler internationaler Hersteller. Die Branche erzielt einen Jahresumsatz von rund 15 Mrd. CHF und ist einer der wichtigsten Exporteure. Bei Swissmedic, dem Schweizerischen Heilmittelinstitut, liegen mehr als 10’000 Seiten mit fast 300’000 Einzeleinträgen zu Rückrufen, Sicherheitswarnungen etc. vor.

Kostenrisiken

Anders als in anderen Industrien können Rückrufe bei Implantaten schnell extrem hohe Kosten verursachen. So kann eine Herzoperation ohne Weiteres 50’000 CHF oder 100’000 CHF kosten, bei Komplikationen und langen Klinikaufenthalten kann es auch ein Vielfaches davon werden. Dazu können beträchtliche Schadenersatzforderungen kommen. Auch wenn bisher noch keine negativen Effekte an der Börse zu beobachten sind: Medtech-Investoren sollten die aufziehenden Wolken vorsichtshalber im Blick behalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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