Macro Perspective: Stress im Finanzsystem – die FTX-Pleite und andere Unerfreulichkeiten

Domino-Effekte fordern Regierungen und Regulatoren

0
3629
Supernova (kurzzeitiges, helles Aufleuchten eines massenreichen Sterns am Ende seiner Lebenszeit durch eine Explosion, bei welcher der ursprüngliche Stern selbst vernichtet wird) am Kryptohimmel. Bild: stock.adobe.com

«Die Geschichte der massenhaften Selbsttäuschung ist derart lang und enthält derart viele Episoden, dass 50 Bände kaum genügen würden, um sie eingehend darzustellen.» Charles Mackay, 1814-1889, Journalist, Schriftsteller

Die 32 Mrd. USD Market Cap der weltweit drittgrössten Krypto-Börse FTX haben sich in Luft aufgelöst. Die zahlreichen Probleme des Krypto-Sektors hatten zum Abfluss von 10 Mrd. USD an Kundengeldern geführt. Dann stürzte das Kartenhaus ein. Die Gläubiger und Kunden verlieren mindestens 3 Mrd. USD. Ein Lehrstück.

Es scheint, als ob das Krypto-Universum implodiert. Erst erwiesen sich die «Stable-Coins» als reichlich instabil, dann gaben die anderen Kryptowährungen die gesamten Gewinne der letzten zwei Jahre ab – und jetzt auch noch die Mega-Pleite von FTX, die den ganzen Sektor in die Bredouille bringt. Gelder werden abgezogen, die Pleitegeier kreisen, und die Anzahl der Erklärungen im Krypto-Universum, nicht vor dem Konkurs zu stehen, nimmt täglich zu.

300 Jahre Madness of Crowds

Aus der zeitlichen Distanz betrachtet kommt das alles nicht unbedingt überraschend. Isaac Newton hatte schon vor 300 Jahren erkannt: «Ich kann zwar den Lauf der Himmelskörper auf Zentimeter und Sekunde genau berechnen, jedoch nicht, wohin eine wahnwitzige Menge die Kurse treibt.» So hat er aus seinen am Ende verlustreichen Spekulationen mit den Aktien der South Sea Company doch zumindest einen Erkenntnisgewinn gezogen.

Die Südseeblase von 1720 war eine bedeutende Spekulationsblase der frühen Neuzeit. Sie ereignete sich zur selben Zeit wie die Mississippi-Blase in Frankreich. Bereits 1637 war die Tulpenblase in Holland geplatzt. Bild: PD
Die Geschichte reimt sich

Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Das gilt nicht nur für die Weltpolitik, Beispiel Afghanistan, sondern auch und gerade an der Börse. Es ist immer so, dass Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs, der technologischen Erneuerung, des wachsenden Wohlstands auch Chancen für schnellen Reichtum bieten, vor allem, wenn Kapital vorhanden und leicht verfügbar ist. Nichts hat sich an der menschlichen Neigung geändert, anfällig für irrationale Konzepte mit fantastischen Gewinnmöglichkeiten zu sein.

Versagen der Kontrollinstanzen?

Was sich jedoch nach 300 Jahren Finanzgesetzgebung, Regulierung, Aufsichtsbehörden und Anlegerschutz hätte ändern müssen, ist, es unmöglich zu machen, was sich beispielsweise bei FTX abgespielt oder auch regelwidrig nicht ereignet hat. Am 11. November kollabierte FTX, der Gründer Sam Bankman-Fried wurde durch John Ray III als Chief Executive ersetzt. John Ray III war es auch, der vor 20 Jahren das Debakel nach der spektakulären Pleite von Enron richtete, also ein Mann mit Erfahrung in Sachen Finanzbetrug, byzantine Unternehmensstrukturen, Veruntreuung und Missmanagement. Anlässlich des FTX-Insolvenzantrags sagte Ray, dass er «niemals zuvor in seiner Karriere ein so totales Fehlen von Unternehmenskontrollinstanzen gesehen hat». Bankman-Fried hatte den Kollaps zuvor als «Liquiditätskrise, die sich in eine Solvenzkrise gewandelt hat» dargestellt.

Das Markenzeichen FTX wird nicht mehr lange an der Fassade der Sportarena in Miami zu sehen sein. Bild: PD
Intransparenz – generell ein Warnsignal

Zu den Merkwürdigkeiten zählen fehlende Aktiva in Milliardenhöhe, abgeflossene Gelder, die nicht auffindbar sind, ausstehende Kredite in Milliardenvolumen sowie ein schwer durchschaubares Firmengeflecht aus 130 Schwesterfirmen mit unklaren Besitzstrukturen. Ray wundert sich auch über substanziellen Immobilienbesitz einer kleinen Gruppe von Angestellten auf den Bahamas, zu dem es jedoch keine Dokumentation gibt. Zahlungen wurden durch wechselnde Gruppen von Supervisoren legitimiert, indem sie als Bestätigung Emojis sendeten.

Mindestens 3 Mrd. USD Vermögensschäden

Soweit ist schon klar, dass schwerer Betrug und Missmanagement ursächlich für die beträchtlichen Verluste sind. Zuerst sah es danach aus, dass 9 Mrd. USD Verbindlichkeiten nur 1 Mrd. USD an Aktiva gegenüberstehen. Inzwischen wird der Schaden auf mindestens 3 Mrd. USD taxiert. Den Schaden tragen rund 1 Mio. Kunden, die FTX zum Teil hohe Summen anvertraut hatten. Auch namhafte Finanzinstitutionen wie Sequoia Capital, Blackrock und der Ontario Teachers´ Pension Plan hatten FTX Kapital anvertraut. Zu den Klägern zählen u.a. die beiden bisherigen FTX-Werbeträger, die Tennisspielerin Naomi Osaka und der Football-Star Tom Brady.

Auto-delete-Kommunikation

Lektionen lassen sich aus weiteren Besonderheiten ziehen. Bankman-Fried sendete Anweisungen über Applikationen mit auto-delete-Funktion und ermutigte Angestellte dazu, ebenso zu verfahren. Die meisten FTX-Einheiten haben nie eine Verwaltungsratssitzung erlebt. Eine Liste der Mitarbeiter existiert nicht, da keine Aufzeichnungen zu finden sind. Die Liste der verdächtigen Merkwürdigkeiten ist noch länger. Doch auch ihre vollständige Auflistung ändert nichts an der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Hinterher sind alle klüger – oder doch nicht?

So wundert es nun nicht, dass sich auch – wieder einmal – die Politik für die Entwicklungen im Krypto-Universum interessiert. Das US-Repräsentantenhaus plant eine Anhörung zu den Vorgängen um FTX. Die EZB weist verstärkt auf die Risiken des Kryptomarktes hin. EZB-Ratsmitglied Pablo Hernandez de Cos sagt: «Wir hoffen, dass die jüngsten Ereignisse die Bürger für die Risiken sensibilisieren, die mit diesen Kryptoanlagen verbunden sind.» Schon vor dem FTX-Debakel hatten mehrere Länder wie die USA, die Schweiz und Deutschland Abstand von Plänen zur Einführung von Krypto-Geld genommen. Die SNB sagt: «… scheint es aus heutiger Sicht unwahrscheinlich, dass Krypto-Token in der Schweiz verbreitet als Geld eingesetzt werden.»

Notenbanken schalten auf Krisenmodus

Die Notenbanken sind stark gefordert, denn es bilden sich reichlich weitere Gewitterwolken, ganz abgesehen von dem Krypto-Desaster. Im Finanzstabilitätsbericht der EZB ist davon die Rede, dass die steigenden Lebenshaltungskosten die Fähigkeit der Konsumenten zur Bedienung ihrer Kredite einschränke und die verschlechterte Wachstumsperspektive die Unternehmensgewinne bedrohe. Auch die Staatsfinanzen seien durch die schuldenfinanzierten Unterstützungsprogramme mit Blick auf die Energiekrise betroffen. Diese belaufen sich nach EZB-Schätzung auf 1,4% der BIPs in der Eurozone. Insbesondere die Marktstimmung für die anfälligeren staatlichen Emittenten des Euro-Raums könnte sich bei einer Verschlechterung des Finanzumfeldes verändern. Banken müssen 2023 höhere Rückstellungen bilden, und auch der Immobilienmarkt könnte nach EZB-Einschätzung einen Wendepunkt erreicht haben. Die Hypothekarzinsen haben bereits ein 5-Jahreshoch erreicht. In Ländern wie Schweden und Niederlande befinden sich die Immobilienpreise bereits in einer Baisse.

Finma-Risikomonitor mit klarer Sprache

Im jüngsten Risikomonitor der Finma werden ganz ähnliche Risiken für die Schweiz ausgemacht. Allerdings liegt der Fokus auf Zins- und Kreditrisiken. Dazu kommen Risiken durch Risikoaufschläge, Cyber-Attacken, Geldwäschereibekämpfung sowie des erschwerten grenzüberschreitenden Marktzugangs. Es zeigt sich, dass die Risikokataloge in der Schweiz, Deutschland oder Italien zwar eine unterschiedliche Ausprägung haben, doch alle sind im Ende des Tiefzinsregimes und den steigenden Inflationserwartungen begründet.

Stimmung der Börsenratgeber vs. Faktenlage

Tatsächlich ist auch die Schweiz als «Insel der Glückseligen» von der wirtschaftlichen, sozialen, technologischen und weltpolitischen Gezeitenwende betroffen, auch wenn die Kommentare der Börsenratgeber dies kaum erkennen lassen. Die Konsumentenstimmung ist auf einem Tiefstand, die Anzahl der Insolvenzen steigt, und nicht wenige Haushalte rutschen durch die steigenden Lebenshaltungskosten in die Armut ab. Wohltätige Tafeln und Nahrungsmittelpakete haben Hochkonjunktur.

Grösster historischer Glaubwürdigkeitsverlust der Notenbanken

Die rosa gezeichneten Szenarien erscheinen insgesamt wenig überzeugend. Steigende Zinsen und ihre durch den Transmissionsmechanismus verzögerten Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche des Kapitalmarktes und der Realwirtschaft sind nach 40 Jahren Disinflation scheinbar ausserhalb des Vorstellungsvermögens selbst von Notenbankern. Die allgemeine und unisone Beschwichtigungspolitik der Notenbanken bis 2022 ist ein Armutszeugnis und wirft fundamentale Fragen zur Kompetenz auf. Solche Fehleinschätzungen wären Volcker, Greenspan, Tietmeyer oder Weber nicht unterlaufen. Die haben aber als starke Persönlichkeiten auch ihre Unabhängigkeit von der Politik und deren launischen Wünschen stets zu verteidigen gewusst, notfalls auch entschieden.

SNB – die wohl erfolgreichste Notenbank

Während die Notenbankpolitik der SNB gemessen am Erreichten durchaus als klug und erfolgreich einzustufen ist, gilt das für die EZB eher nicht. Vielleicht liegt es an der Konstruktion, aber die nationalen Erfordernisse Italiens sind anders gelagert als in Dänemark, Österreich oder Frankreich. Multilaterale Politik wie in der EU ist eine Aufgabe der Diplomatie, soll sie ihre Ziele erreichen.

Stabile Kaufkraft als Mandat

Doch die Notenbankpolitik folgt einem ganz anderen Primat und sollte allein der Wahrung der Kaufkraft und der Stabilität der Währung verpflichtet sein und nicht EU-weite politische Signale senden. So lautet auch das Mandat. Die Wahl Draghis war, trotz seiner Kompetenz, eine politische Angelegenheit, ebenso wie die seiner Nachfolgerin Lagarde, die im Übrigen keine Notenbankerfahrung mitbrachte. Notenbankpolitik ist mit einer hohen Verantwortung gegenüber der gesamten Bevölkerung verbunden und darf keine faulen Kompromisse eingehen oder aus Gefälligkeit gegenüber den Machthabern die Ersparnisse der Bürger mit ungeprüften Konzepten aufs Spiel setzen. Die Erreichung dieser Ziele hat die SNB unter den gegebenen Umständen bravourös gemeistert. Kein vergleichbares Land hat eine ähnlich tiefe Teuerungsrate. Die Schweiz ist damit einmal mehr von den extremeren Auswirkungen einer verfehlten Finanz- und Notenbankpolitik soweit verschont geblieben. Dennoch sind die Warnungen von SNB und Finma ernst zu nehmen. Denn Effekte aus der die Schweiz wie eine riesige Amöbe umgebenden EU, aber auch aus den USA, China und anderen Regionen lassen sich allenfalls mindern, aber nicht gänzlich vermeiden.

Die Märkte sind an einem Scheideweg. Steigende Zinsen bringen Stress ins System und Konkurse, Veruntreuung und auch betrügerische Machenschaften nehmen zu oder kommen durch den Druck auf die Zinsen ans Tageslicht. Mackay sprich bereits 1841 in seinem Buch «Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds» davon, «… wie leicht sich die Massen in die Irre führen lassen und wie sehr die Menschen dazu neigen, andere selbst in Verblendung und Verbrechen nachzuahmen und stets in der Herde mitzulaufen.»

Kommentar verfassen