Macro Perspective: Elektromobilität – Strukturwandel in der Praxis

Warum in Norwegen Elektromobile 83% der Neuzulassungen ausmachen

0
2893
Bis 2025 wird der Anteil Elektromobile in Norwegen an die 100% betragen. Bildquelle: reuters.com

«Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen bauen Windmühlen.» Chinesisches Sprichwort

Strukturwandel ist ein grosses Wort und wird gerne immer dann von Politikern, Unternehmenskapitänen oder Verbandsvertretern verwendet, wenn es darum geht, notwendige Entscheidungen auf die Zukunft zu verlagern. In die gleiche Kategorie fällt der schöne Terminus «Zeitenwende», nur dass der Akzent hier eher darauf gelegt ist, die Versäumnisse der Vergangenheit vergessen zu machen. So oder so – Zukunftsfähigkeit und damit auch Wettbewerbsfähigkeit sieht anders aus.

«Kicking the can down the road» ist ein amerikanisches Idiom, das den Sachverhalt in einem für alle verständlichen Bild beschreibt. Sowenig wie die Dose durch das Weiterkicken aus der Strasse verschwindet, sowenig wird durch nichtssagende Floskeln in Abkommen und Absichtserklärungen bewegt. «Der Markt wird es schon richten», ist eine weiter stereotype Aussage, die Verlagerung der Verantwortung auf andere, aber auch Ratlosigkeit zum Ausdruck bringt.

E-Mobility Testmarkt Norwegen

Die Rede ist natürlich von den grossen Problemen der Zeit wie Klimawandel, eskalierende Verschuldung, Reformstau und Bürokratismus. Ein positives relevantes Beispiel für eine lösungsorientierte Vorgehensweise mit messbarem «Impact» findet sich in Norwegen. Seit die Entscheidung gefallen ist, Automobile mit Verbrennungsmotoren ab 2025 nicht mehr zuzulassen, steigt die Quote der Elektromobile Jahr für Jahr kräftig und erreichte 2022 mit 82,8% der Neuzulassungen einen Rekordwert. Deren Steigerung zum Vorjahr beträgt 137%!  Insgesamt sind 20% der in Norwegen zugelassenen Fahrzeuge nun «Net-Zero»-Elektromobile. Hybrid-Modelle sind mit einem Absatzrückgang um 60% in 2022 schon fast Auslaufmodelle. Der Marktanteil liegt noch bei 3,6%.

Wettbewerbsvorsprung

Damit ist Norwegen nicht nur global an der absoluten Spitze bei der Elektrifizierung des Strassenverkehrs, sondern kommt auch den nationalen Klimazielen einen grossen Schritt näher. Sehr viel schneller, als dies gemeinhin für möglich gehalten wird. Es bringt zudem alle industrialisierten Länder unter Handlungsdruck, deren Agenda bislang Zulassungen für Verbrennungsmotoren bis 2035 oder 2040 vorsehen oder sogar gar keine Begrenzung planen.

Ordnungspolitik

Bemerkenswert ist, dass der Strukturwandel hin zur nächsten Antriebstechnologie eine Sache von wenigen Jahren ist, und nicht etwas, was irgendwann in der ferneren Zukunft geschehen soll. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass es eben nicht dem Markt überlassen blieb, sondern durchaus sinnvolle und vor allem vernünftige ordnungspolitische Massnahmen für die neuen Realitäten sorgen. Der Wille der Bürger drückte sich in den Wahlergebnissen aus, und die Regierungsparteien erarbeiteten entsprechende Gesetzesvorlagen, die ihre Hürden genommen haben. Demokratisch eben.

Massive Steueranreize für Elektromobile kosteten den Staat 2022 fast 4 Mrd. Euro. Dafür wurde ein beachtliches Momentum in der Adaption geschaffen. Nicht alles ist perfekt. So benötigen Norweger 10 bis 15 Apps, um überall im Land Strom tanken und bezahlen zu können. Und es mangelt noch an Ladestationen.

Monopolwirtschaft vs. Marktwirtschaft

In einer nahezu perfekten Markwirtschaft kann tatsächlich vieles dem Markt überlassen bleiben. In einer Zeit, in der Lobbyisten mit allen Mitteln Vorteile für die von ihnen vertretenen Industrien erhalten und noch ausbauen wollen, eher nicht. Ein Beispiel ist die Rockefeller-Ära, deren wettbewerbsschädlichen Monopole nur durch Anti-Trust-Gesetze aufgelöst werden konnten. Der Wettbewerb florierte danach wieder und brachte zahlreiche Innovationen zum Nutzen von Gesellschaft und Wirtschaft hervor. Nicht zufällig treten auch Marktverzerrungen und Monopolwirtschaft zusammen auf. Damals durch Wildwest-Methoden und Korruption auf allen Ebenen, heute dagegen kämpfen die Datenkraken, die Ölindustrie und natürlich die etablierte Automobilindustrie mit zeitgemässen Mitteln um ihre Vormachtstellung, ihre Privilegien und ihre Gewinnmargen. Dazu zählen Desinformation, Wettbewerbsbehinderung und Einflussnahme auf Legislative und Exekutive.

Der Verkauf von Elektromobilien in Norwegen verläuft seit 2011 in hohem Tempo. Grafik: reuters.com
Von 0 auf 83% in 11 Jahren

Noch 2011 waren in Norwegen Elektromobile bei den Neuzulassungen praktisch nicht vertreten. Nur fünf Jahre später überschritt ihr Marktanteil die 20%-Marke. Nochmals fünf Jahre später übersprang ihr Anteil die 80%-Hürde. Bis 2025 wird der Anteil nahe 100% betragen. Das Tempo der Adaption ist ähnlich dem der verschiedenen Digitalisierungswellen in Industrien wie e-Travel, e-Commerce und e-Banking. Erst kommen die early-adopters, dann folgt in der zweiten beschleunigten Welle die breite Adaption. Insofern hat der e-Wandel in Norwegen die Gelegenheit, sich marktwirtschaftlich zu entfalten. Überall, wo dagegen das Ende des Verbrennungsmotors verzögert, gebremst und sabotiert wird, sind die Strukturen fossiliert – im doppelten Sinn des Wortes.

Der Kreislauf der Wirtschaft

Dabei ist doch die Lektion aus vergangenen Phasen des innovationsgetriebenen Strukturwandels eindeutig. Wer sich dem Wandel verschliesst und Vergangenes zum eigenen Vorteil bewahren will, wird verschwinden. Unternehmen, Industrien, ganze Wirtschaftszweige. Umgekehrt steigen neue Technologien, Organisationsformen und Unternehmen schnell auf und schaffen neue Vermögen. So ist der Kreislauf der Wirtschaft. Für «Pfeffersäcke», Zucker-, Kautschuk- und Stahlbarone mag es im Zenit ihrer Macht ganz und gar unvorstellbar gewesen sein, dass sich jemals etwas ändert.

Der Kampf um Marktanteile

Die Automobil-Industrie befindet sich im Auge des Sturms. Der rapide Wandel der Märkte und der Präferenzen der Konsumenten führen immer wieder zu zahlreichen Überraschungen, so auch in Norwegen. Das Vorjahresspitzenmodell Tesla 3 rutschte 2022 auf Rang 17. Dafür gewann das neue Modell Y den ersten Platz im Ranking. Insgesamt kommt Tesla auf einen Marktanteil von 12,3%, VW liegt wie im Vorjahr mit 11,6% auf der zweiten Position. Die Top-20 Positionen sind breit über die bekannten Hersteller von Audi über Ford und Hyundai bis Toyota verteilt. Mit Polestar ist neben Tesla nur ein weiterer E-Mobility-Name vertreten. Polestar gehört seit 2015 zu Volvo, die ihrerseits 2010 von der chinesischen Geely übernommen worden war.

Noch geringer Marktanteil chinesischer Produzenten

Was ein wenig verwundert, ist die Abwesenheit chinesischer Hersteller in den Top-20 abgesehen von den Volvo-Marken. Haben die chinesischen Exporteure wegen der Lieferketten-, Transport- und Lockdown-Problematik die Europa-Offensive aufgeschoben? Oder gibt es doch andere Faktoren? In den ersten neun Monaten 2022 betrug der Anteil chinesischer Automobile bei den Neuzulassungen in Europa 1,4%, wie die französische Beratungsgesellschaft Inovev errechnet hat. Die Hälfte davon entfällt auf E-Mobile. Bei den E-Mobilen beträgt der Marktanteil chinesischer Hersteller dagegen 5,8%.

Kostenvorteil für China

Die tatsächlichen Gründe dürften eher strategischer Art sein. Ziel der chinesischen Hersteller ist vor allem der gehobene Markt mit seinen hohen Margen. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber den etablierten Produzenten liegt in der tieferen Kostenbasis. Laut Automobil-Experten kann dieser bis zu 10’000 Euro Unterschied bei den Herstellungskosten ausmachen. Das ist eine gute Voraussetzung, um in Europa signifikante Marktanteilsgewinne zu erzielen.

Fünf Sterne bei NCAP

Dem steht noch ein Glaubwürdigkeitsproblem bezüglich der Sicherheit entgegen. Viele der exportorientierten chinesischen E-Mobil-Anbieter haben daher alles darangesetzt, um fünf Sterne beim European New Car Assessment Programme (NCAP) zu erzielen. Dieses Ranking wird nur vergeben, wenn ein Modell über die gesetzlichen Vorschriften hinaus mit aktiven und passiven sicherheitsrelevanten Charakteristika ausgestattet ist. Im Visier haben die Chinesen vor allem Fahrzeugflotten von Unternehmen. Diese machen die Hälfte des adressierbaren Marktes aus und fungieren gleichzeitig als Eisbrecher, wie es schon die japanischen Hersteller in den 1980er Jahren vorgemacht haben. Für die Entscheider in Sachen Flottenwechsel ist Sicherheit das wichtigste Kriterium. Mit ihren Kostenvorteilen sind chinesische Wettbewerber in der Lage, auch bedeutende Preisanreize zu nutzen, um ins Geschäft mit den europäischen Corporates zu kommen.

Der ESG-Aspekt als Zünglein an der Waage

Der Zeitpunkt könnte kaum besser sein, denn gerade die Unternehmen vollziehen den Wechsel zur Elektromobilität in Massen, um ihre Klimabilanzen spürbar zu verbessern. Die Nachfrage nach Elektromobilen in 2022 war jedenfalls höher als das Angebot, sonst wäre selbst in Norwegen die Jahresbilanz noch stärker durch E-Modelle dominiert worden. Die mangelnde Verfügbarkeit hält auch die Firmenchefs noch ab. Doch diese Situation ändert sich wohl mit der Offensive der chinesischen Produzenten.

Preiserhöhung oder -senkung – was ist klüger?

Während BMW, Audi und weitere etablierte Hersteller in dieser Situation die Preise erhöhen, hat Tesla scheinbar die Zeichen der Zeit besser erkannt und senkt die Preise um 20%, um jetzt die Marktanteile zu erhöhen – bevor die Chinesen kommen. Für 2023 ist mit dem Markteintritt einer ganzen Anzahl von chinesischen Anbietern in Europa zu rechnen, darunter relativ unbekannte Namen wie Aiways, Great Wall Motor, XPeng, BYD und Nio. Im Oktober 2022 kündigte der deutsche Autoverleiher Sixt an, 100’000 Elektromobile von BYD zu kaufen – ein Vorgeschmack!

Wettbewerbsfragen

Die Kernfrage für die etablierten Hersteller von Automobilen ist, wie sie gegen die chinesische Konkurrenz im Massengeschäft bestehen wollen. Den chinesischen Modellen wird inzwischen eine ebenbürtige Sicherheit bescheinigt sowie auch, dass die technischen Features sogar überlegen sind. Dazu kommt der Kostenvorteil. Scheinbar haben die etablierten Anbieter alle das Luxus-Segment mit seinen hohen Margen im Visier, sind jedoch nicht in der Lage, kompetitive Modelle für den Mid Market herzustellen. Die Beratungsgesellschaft Inovev erwartet daher für chinesische Anbieter bis 2030 einen Marktanteil von 12,5% bis 20% bei Elektromobilen in Europa. 40% der Neuzulassungen sollen 2030 auf E-Autos entfallen. Beide Schätzungen könnten sich jedoch als zu zurückhaltend erweisen.

Die Allianz China – Saudi-Arabien

Weitere Nachteile könnten den westlichen Herstellern aus geostrategischen Veränderungen erwachsen. So schlossen Xi Jinping und die Herrscher der Golfstaaten weitreichende Vereinbarungen, und zwar am 22. Dezember 2022, während die Entscheidungsträger im Westen Geschenke verpackten und Weihnachtsbäume schmückten. Weihnachten spielt weder am Golf noch in China eine Rolle. Demnach sichert sich China Öllieferungen auf Jahre hinaus, die in Yuan bezahlt werden. Der bisherige Petro-Dollar wird nun zum Petro-Yuan. Ähnliche Mechanismen werden bei zahlreichen Rohstoffen mit den Produzentenländern wie Russland und Indonesien eingerichtet.

Schlechte Ausgangsposition für Europa

Europa könnte sich ganz schnell in einer marginalisierten Rolle wiederfinden, denn es verfügt weder über Energie noch Metalle. Die USA sind durch Fracking wieder Selbstversorger bei Öl geworden und brauchen Saudi-Arabien eigentlich nicht mehr als Lieferanten. Die Relevanz liegt eher darin, dass der Verbündete des Westens nun mit Russland und China gemeinsame Sache macht. Ähnlich ist es mit dem NATO-Partner Türkei, der nun den Beitritt Schwedens zum Verteidigungsbündnis desavouiert, während der Präsident offen über einen Beitritt des Landes zur Shanghai Cooperation Organisation lamentiert.

Angst vor De-Industrialisierung

Die strategischen Vorteile des Zugangs zu günstiger Energie und Rohstoffen könnte schlimmstenfalls zur De-Industrialisierung Europas führen, wenn Unternehmen ihre Standorte dahin verlagern, wo sie günstige Rahmenbedingungen vorfinden. Andererseits bietet die Mehrfach-Krise auch die Gelegenheit, Dinge neu zu bedenken und innovativen Technologien und Lösungen den Weg zur Marktreife zu bahnen. Offensichtlich bleiben in Ländern wie USA, Indien, Russland, China fossile Brennstoffe weiterhin dominierend.

Zeitenwende

Der Strukturwandel vollzieht sich vor aller Augen, manchenorts wie in Norwegen schnell, sonst eher gebremst. Das Tragische dabei ist, dass die ausgerufene «Zeitenwende» so oder so verlaufen kann. Jede Krise ist auch eine Chance, man muss sie nur zu nutzen wissen. Angesichts des Schneckentempos der Anpassungen in Europa ist die Gefahr gross, ins Hintertreffen zu geraten. Um den Strukturwandel aktiv mitzugestalten und neue strategische Positionen zu erobern, müsste auf allen Ebenen sehr viel entschiedener gehandelt werden. Die aktuelle Verkehrs- und Technologiepolitik schützt die auf Emissionen basierenden Gewinne von VW, BMW & Co. Der dafür zu zahlende Preis ist für die Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes zu hoch!

Auch für diesen Prozess gibt es ein passendes chinesisches Sprichwort: «Zuerst verwirren sich die Worte, dann verwirren sich die Begriffe, und schliesslich verwirren sich die Sachen.»

Kommentar verfassen