Indien: Wachstumsboom ohne Ende?

Indien auf dem Weg zur drittgrössten Volkswirtschaft vor Deutschland und Japan

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Die neue Brücke verbindet die traditionellen alten und neuen High-Tech-Regionen der Stadt Hyderabad in Indien. Bild: stock.adobe.com

Indien ist ein Land der Superlative. 1.4 Mrd. Menschen, die höchsten Wachstumsraten und eine herausragende langfristige Performance der Börse. 2024 wird weltweit in 64 Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von 4 Mrd. gewählt, ein Rekordwert. Darunter ist auch Indien, die älteste Demokratie der Emerging Markets. Am WEF in Davos ist dieses Jahr das Interesse von Wirtschaft und Politik nochmals markant angestiegen. Zwischen der Schweiz und Indien steht ein Freihandelsabkommens kurz vor dem Abschluss. Grund genug, einen genaueren Blick auf das Land und die Chancen für Wirtschaft und Investoren zu werfen.

Die internationale Bedeutung Indiens hat 2023 zugenommen. Das Land übernahm die Präsidentschaft der G20-Organisation und war als Gründungsmitglied wesentlich an der Erweiterung der BRICS um fünf Länder zu den BRICs+ beteiligt. Die 10 BRICS+ Länder repräsentieren 45% der Weltbevölkerung und ein Viertel des globalen Exportvolumens. Das BIP der BRICS+ Länder hat zwischenzeitlich das der G7 überflügelt. Eine wesentliche Triebfeder des langfristig überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums in Indien ist der hohe Anteil der jungen Bevölkerung. In Indien sind 66% der Menschen unter 35 Jahre alt.

Der BSE Sensex ist der bekannteste und wichtigste Aktienindex an der Bombay Stock Exchange in Indien. Er führt die 30 grössten Unternehmen auf, die an der Börse in Mumbai gehandelt werden. Chart: google.com

Space Power

Um Perspektiven zu bieten, steht das Land vor grossen Herausforderungen. Die werden auch genutzt, inzwischen sogar in Bereichen, bei denen man nicht als Erstes an Emerging Markets denkt. So landete im August 2023 erstmals ein indisches Raumfahrzeug auf dem Mond. Das Besondere dabei war die Erforschung der dunklen Seite des Mondes, womit ein signifikanter Beitrag zur Erforschung des Erdtrabanten geleistet wurde. Nun wird eine bemannte Landung auf dem Mond geplant.

Die grössten Volkswirtschaften der Welt im Vergleich. Tabelle: https://tradingeconomics.com/matrix?g=top

Sprecher des Globalen Südens

Das Rezept für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg besteht aus inklusivem und nachhaltigem Wachstum, digitaler Entwicklung sowie aktiver Klimapolitik. Indien war wesentlich am Start der multilateralen Projekte «Global Biofuel Alliance» und «Global Initiative on Digital Health» beteiligt und hat sich dadurch auch zum wirkungsvollen Sprecher des Globalen Südens profiliert. Teil der Agenda von Indien ist es, in der internationalen Arena die Thematisierung der Anliegen des Südens zu artikulieren sowie diese in den internationalen Institutionen in den Diskurs mit den entwickelten Ländern einzubringen.

Nachbar Pakistan

Nach der mühsam erstrittenen Unabhängigkeit von Grossbritannien 1947 und der Aufteilung in das heutige Indien und Pakistan wurde 1950 erstmals in Indien gewählt. Es ist damit eines der wenigen Emerging Market Länder, das eine über 70-jährige Demokratie aufweist. Es gab drei Kriege zwischen Indien und Pakistan, wobei die Region Kaschmir bis heute ein wesentlicher Streitpunkt ist. Der Hindu-Nationalismus hat seit 2014 mit der Übernahme des Amts des Premierministers durch Narendra Modi stetig an Bedeutung gewonnen. Religiös motivierte Konflikte brechen immer wieder aus. Brisant ist, dass beide Länder Nuklearmächte sind. Das BIP von Indien beträgt fast das Zehnfache des pakistanischen Wertes. Die Bevölkerungszahl Pakistans liegt bei einem Sechstel.

Investitionen und Wachstum

Die Wachstumsdynamik hat sich in Indien beschleunigt. Seit 2015 liegt sie an der Spitze der G20-Länder. Die Wachstumsrate lag abgesehen von 2020 bei durchschnittlich 7% bis 8% und trug 2023 volle 16% zum globalen Wachstum bei. Einen integralen Bestandteil der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik bilden Infrastruktur und Konnektivität. Beispiele sind Ausbau und Upgrading der Bahnnetze, der Häfen und Strassennetze. Die Investitionen in die Digitalisierung der Prozesse hat zu einer boomenden IT-Industrie geführt, deren Wettbewerbsvorsprung zu einem Fluss neuer Produkte und Services führt. In vielen indischen Metropolen sind Software-Parks errichtet worden und beschleunigen die Entwicklung.

Telemedizin

Ein Beispiel ist Telemedizin. Hunderte Millionen der Bevölkerung leben in ländlichen oder schwer zugänglichen Regionen, in denen die medizinische Versorgung noch stark unterentwickelt ist. Wie in Europa ziehen ausgebildete Mediziner ein urbanes und vergleichsweise komfortables Wirkungsfeld vor. Landärzte sind zudem schlechter bezahlt. Die Telemedizin kann zwar keine Wunder bewirken, jedoch zu frühen Diagnosen und angemessener Therapie führen sowie Aufklärung und Information liefern. Trotz des beeindruckenden Fortschritts in der Entwicklung Indiens bleiben doch die Lebensbedingungen für weite Teile der Bevölkerung unterentwickelt.

Dezentrale Netze

Indien will auch eine führende Rolle bei der Energiewende spielen. Grüner Wasserstoff und Solar- und Windenergie stehen im Vordergrund. Insbesondere sollen dezentrale Netze entstehen, die Regionen jenseits der Ballungsräume krisensicher und autark mit Energie versorgen. Zahlreiche Naturkatastrophen von Dürren über Erdbeben und Erdrutsche bis hin zu Überflutungen kommen häufig vor. Die Frequenz und Intensität solcher Ereignisse nehmen auf dem indischen Subkontinent als Folge des Klimawandels beständig zu. Die Schäden sind beträchtlich, da Versorgungsnetze gestört oder zerstört werden und ganze Provinzen lahmgelegt werden können. Solche Projekte zur Inklusion benachteiligter Regionen sind beispielhaft und können auch in anderen Ländern des Südens für eine Verbesserung der Lebensbedingungen sorgen.

Energiewende und Transformation

Bislang ist Indien jedoch zu energiehungrig, um auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Im Gegenteil, Kohle, Öl und Erdgas sind die Hauptenergiequellen und werden sogar ausgebaut, um das Wachstum zu unterstützen. Die Transformation zur klimaneutralen Wirtschaft wird lange dauern. Das Ziel ist eine Net-Zero-Wirtschaft bis 2070. Der Transformationsprozess schafft viele Chancen, nicht nur für neue Technologien, sondern auch für Unternehmen, die sich auf Energieeffizienz, Smart Grids, Reduzierung von Verlusten aus Leckagen oder intelligente Bewässerung verstehen.

Indien und China – ein ambivalentes Verhältnis

Das Verhältnis zwischen China und Indien ist zwar chancenreich, jedoch auch voller Spannungen. Die Grenzstreitigkeiten im Himalaya sind explosiv. 2020 wurden 20 indische Soldaten von Chinesen getötet. Weniger bekannt ist die Konkurrenz um IT-Märkte, die auch mit einer Abschottungspolitik verbunden ist. Restriktionen für chinesische Investments in den indischen Tech-Sektor sind ökonomische Realität, ebenso werden sukzessive chinesische Gaming-Apps, Fintech-Apps und Social Media verboten. Hauptgrund sind Sicherheitsbedenken, da Daten auf Server ausser Landes fliessen. Das zeigt deutlich, dass Wirtschaftsentwicklung, Technologie und Geopolitik für Indien untrennbar verbunden sind. Ein Ausdruck davon ist auch die starke Aufrüstung. Indien ist regelmässig unter den Top-Rüstungskäufern in der Welt und verfügt über die zahlenmässig drittstärkste Armee.

Vorteile für internationale Partner

Indien hat gute Karten, wenn es um das De-Coupling des Westens von China geht. Das Land ist demokratisch, wenn auch der Demokratisierungsgrad in den letzten 10 Jahren rückläufig ist. Die Rechts-, Verwaltungs- und Finanzsysteme sind am britischen System ausgerichtet, weshalb es in Indien weniger schwierig ist, Geschäfte zu betreiben als in China. Dazu kommt, dass die Lohnkosten in China nicht mehr wirklich günstig sind. Das wurde bisher durch das starke, aber nun abflachende Wachstum des chinesischen Binnenmarktes kompensiert.

IT und Life Sciences

Für westliche Unternehmen ist der Zugang zum stark wachsenden indischen Markt vielversprechend, schon wegen der enormen Nachfragemacht der meist jungen Bevölkerung. Neben dem IT-Sektor gewinnt auch der Life-Sciences-Sektor international an Bedeutung. Heute scheint Hyderabad die «Apotheke der Welt» geworden zu sein, das Zentrum der Pharma-Industrie. Das «Genome Valley» ist das Zentrum der Biotechnologie. Die zunehmenden Engpässe in der Arzneimittelversorgung in Ländern wie der Schweiz und der EU werden wohl mehr und mehr von Indien gedeckt werden. Seit Jahren schon floriert auch der sogenannte Medizin-Tourismus. Patienten aus den USA und Europa lassen sich in Indien in spezialisierten Kliniken operieren und therapieren, nicht nur, weil es sehr viel günstiger als in den Heimatländern ist, sondern auch, weil die Qualität des Gesundheitswesens und des Fachpersonals höchsten Ansprüchen genügen.

Emerging Market im Boom

Die volkswirtschaftlichen Eckdaten sehen genau so aus, wie es von einem nachhaltig stark wachsenden Emerging Market zu erwarten ist. Die Inflationsrate hat sich zuletzt auf 5,7% ermässigt, wozu die Schwäche der Landeswährung Rupiah beiträgt. Die Leitzinsen bewegen sich bei 6,5%. Das Haushaltsdefizit beträgt 5,9% des BIP, das Zahlungsbilanzdefizit 2% des BIP. Die Staatsverschuldung liegt bei 86,5% des BIP. Besonders stark hat sich der Dienstleistungs-Sektor entwickelt, der über 50% zum BIP beiträgt, Tendenz steigend. Die IT-Industrie hat daran wesentlichen Anteil, auch wegen dem Trend zum Outsourcing

Universum Indien

Das Land ist äusserst vielfältig. Es werden über 100 Sprachen gesprochen, von denen 31 Amtssprachen sind. 80% sind Hindus, 14% Moslems, der Rest verteilt sich auf Christen, Sikhs, Buddhisten und andere. Obwohl es über 100 Milliardäre, viele Superreiche und wohlhabende Mittelständler gibt, 30% der Bevölkerung Indiens hat weniger als 1 USD pro Tag zum Bestreiten des Lebensunterhaltes. Besonders schlecht gestellt sind aus sozio-kulturellen Gründen die Frauen. Soziale Inklusion hat in Indien also eine weit breitere Bedeutung als in entwickelten Ländern. Das Gefälle ist zugleich Chance wie auch Risiko.

Positive Prognose

Der Aktienmarkt in Indien zeigt sich seit Jahrzehnten sehr dynamisch. Abgesehen von kurzen Korrekturen weist der Trend nach oben. Nach Branchen ist der Markt breit diversifiziert. Durch die rege Primärmarktaktivität versorgen sich junge innovative Unternehmen unterschiedlichster Industrien mit Kapital für die Finanzierung des Wachstums. Auch Privatisierungen von Staatsbetrieben beleben die Börse. Bis Ende 2024 wird am Markt ein Rückgang von Inflationsrate und Leitzinssätzen um jeweils 1% erwartet.

In einem weiteren Beitrag werden wir in den kommenden Wochen die Aktivitäten von Schweizer Unternehmen im Markt Indien genauer beleuchten.

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