Gerade erst wachen die Regulatoren und Währungshüter auf und sehen, was für ein Menetekel sie sich mit den bisher lax gehandhabten Crypto-Währungen an die Wand geschrieben haben, da rollt mit sogenannten „Tokens“ oder „Initial Coin Offerings“ schon die nächste unregulierte Finanzmarktinnovation über die Anleger und die Märkte hinweg. Privatpersonen, Unternehmen und sogar Staaten wollen die neue wundersame Form der Kapitalbeschaffung und -vermehrung nutzen. Doch die ersten Betrügereien haben schon zahlreiche Opfer gefordert. Der letzte Schrei?
Es ist einfach fantastisch, was dank der Blockchain-Technology und den hoch fliegenden Crypto-Währungen möglich geworden ist. Im August 2016 setzte die erste grosse Ausgabewelle der „Tokens“ ein, und der von Stratis ist zwischenzeitlich um über 100’000% – kein Tippfehler – gestiegen. Der NXT Token ist sogar um mehr als 600’000% in die Höhe geschossen … Das ist der Stoff, aus dem Anlegerträume gemacht sind. Oder doch nicht?
Fantastische Gewinne mit „Tokens“ locken Betrüger
Die SEC hat jedenfalls verstärkt und eindringlich vor Schwindlern gewarnt. Anfang September wurden gleich mehrere börsenkotierte Aktien vom Handel ausgesetzt, da die Unternehmen in dubiose ICO-Aktivitäten verstrickt waren. Zuletzt wurden auch ICOs, die klar der Unternehmensfinanzierung dienen, den Wertpapiergesetzen unterworfen. Die SEC macht Ernst.
China verbietet ICOs
Bis April 2017 lag das monatliche „Emissionsvolumen“ noch unter 100 Mio. USD, ist zwischenzeitlich aber bei 600 Mio. USD angekommen. Bis September waren es insgesamt 1.4 Mrd. USD dieses Jahr. Historisch kumuliert sind es etwas über 2 Mrd. USD. Dann jedoch wachten die chinesischen Regulatoren auf und verboten kurzerhand den Handel mit Crypto-Währungen und die auf diesen basierenden ICOs. Die bereits durchgeführten Kapitalmassnahmen via ICOs müssen rückabgewickelt werden. Die Handelsplätze sind geschlossen. Kurz danach folgte Südkorea mit einem ICO-Verbot.
Unternehmensfinanzierung oder nicht?
Was ICOs oder Token Crowdsales eigentlich sind oder nicht sind, ist bislang unklar und nicht näher definiert. Das ist scheinbar von der entstehenden Crypto-Industrie ganz bewusst so gehalten, um solange wie möglich der Regulierung zu entgehen. Oft geht es im Grunde um Unternehmensfinanzierung, allerdings ohne die gesetzlich geforderten Mindeststandards zu erfüllen, ohne Transparenz und ohne jede Sicherheit. Formal ist meist von „Crowdsale“ die Rede. Und tatsächlich ist die Grundidee aus dem Crowdfunding konzeptionell übernommen oder weiterentwickelt worden. Die Funder oder Financiers ermöglichen mit ihrem Kapital die Entwicklung des Unternehmens oder Projektes und erhalten dafür, zumindest in einer durchaus üblichen Crowdfunding-Variation, nicht Eigentumsanteile, sondern Anrechte auf Produkte, Dienstleistungen oder Vergünstigungen nach erfolgtem Markteintritt.
Spekulationsobjekte par excellence
Doch bei den ICOs geht es gerade in der letzten Zeit im Grunde darum, etablierte Crypto-Währungen, also vor allem Bitcoin und Ether, gegen zukünftige Crypto-Währungen einzutauschen, für die eine neue Blockchain etabliert wird. Deshalb sind innerhalb kürzester Zeit nach einer Zählung über 800 Crypto-Währungen entstanden, nach einer anderen Zählung sogar bereits 3’000! Es muss wie eine wundersame Kapitalvermehrung scheinen. Jemand hat Bitcoin vor Jahren für 100 USD oder 300 USD gekauft und damit seinen Einsatz um den Faktor 47x oder 18x erhöht. Vielleicht hat er auch bei 1’000 USD je Bitcoin einen Teil veräussert und nur kleine Bitcoinbeträge in neue ICOs gesteckt, die sich dann zumindest teilweise vervielfacht haben usw. usf. Sowohl die Crypto-Währungen sind insbesondere 2017 im Wert vs. USD und andere echte Währungen gestiegen als auch die „Tokens“ neuer, vielleicht erfolgreicher Crypto-Währungen.
Draghi weist Estlands Token-Pläne in die Schranken
Das ICO-Fieber hat nun auch Regierungen erfasst. So hat Estland, seit 2011 Mitglied der EU, im September zu laut über ein Projekt der verdeckten Staatsfinanzierung in der neu zu schaffenden Crypto-Währung „Estcoin“ geredet, so dass sich EZB-Präsident Mario Draghi zu dem harschen Kommentar (oder Urteil) in einer Pressekonferenz genötigt sah: „Kein Mitgliedsstaat kann seine eigene Währung einführen, die Währung der Euro-Zone ist der Euro.“ Dennoch bleiben Hintertüren, wie heutzutage in der Politik üblich. Der Sprecher der EZB, Heller, unterstreicht zwar Draghis Alleinanspruch auf Währungshoheit, sagt aber an anderer Stelle über die als Private-Public-Partnership strukturierte Planung in Estland: „Nach meinem Verständnis handelt es sich um eine private Idee und keine offizielle Position. Die EZB kommentiert private Initiativen nicht.“ Eine andere Hintertür ist, dass der Einsatz von ICOs z.B. bei einem Gasunternehmen, das sich in Staatsbesitz befindet, dennoch von der EZB als privat angesehen werden würde.
Von Gold- über Papier- zu Crypto-Währungen?
Noch ist vieles nicht entschieden. Einen interessanten Punkt machte der CEO von Goldman Sachs, Lloyd Blankfein, der sagt, dass er noch keine Meinung dazu habe, weder befürworte, noch ablehne. Er vergleicht die Situation mit derjenigen, als Gold durch Papierwährungen ersetzt wurde, was damals zunächst auch Widerstände ausgelöst habe.
Internationale Regulatoren sind uneins
Aber China hat im September den Handel in Crypto-Währungen verboten und angeordnet, dass alle ICOs rückabgewickelt werden müssen, da es sich um illegale, offene Kapitalbeschaffung handle. Hintergrund ist die Nutzung der Crypto-Währungen für die Kapitalflucht sowie betrügerische Aktivitäten. Die 43 chinesischen ICO-Plattformen sammelten im letzten Jahr bis zum Verbot 400 Mio. USD ein, rund 25% des globalen Marktvolumens. Mitte Oktober äusserte sich auch der russische Präsident Putin dezidiert zum Thema. Er will die Crypto-Währungen nicht verbieten, aber regulieren. In Kanada herrscht eine eher aufgeschlossene Haltung vor, aber die Erkenntnis ist bei den Aufsichtsbehörden gereift, dass die meisten ICOs zum Schutz der Anleger reguliert werden sollten. In Japan tendiert die Regierung eher zum laissez-faire und sieht wohl die strategischen Möglichkeiten der Blockchain-Technologie. Eine ähnliche Haltung nimmt auch der SNB-Präsident Jordan ein, der konzediert, dass die finanzielle Welt durch die Blockchain-Technologie auf den Kopf gestellt wird. Im Gegensatz zur bisherigen Zentralisierungstendenz könnte die Kostenersparnis nun in der Dezentralisierung liegen.
Strategische Weichenstellungen
Der Punkt ist, dass, wenn Japan, Kanada, Estland oder auch die Schweiz auf nationaler Ebene die ICO-Manie, bei der Milliarden aus dem Nichts geschaffen werden, zum Nutzen von Insidern, Schwindlern und Spekulanten, quasi legalisieren, dann werden die anderen wichtigen Länder mitziehen müssen – oder Geschäft und Bedeutung sowie letztlich die Währungshoheit verlieren. Das ist den meisten Beteiligten klar. Christine Lagarde sagt beispielsweise: „Es ist dumm, die Crypto-Währungen zu ignorieren.“
Crypto-Industrie in der Schweiz boomt
In der Schweiz ist das regulatorische Klima für Crypto-Währungen auf Basis der Blockchain-Technologie sehr vorteilhaft. Insbesondere im Zuger „Crypto-Valley“ pulsiert die entstehende Industrie. Der kritische Punkt ist, dass in der Schweiz die Blockchain-Technologie scheinbar ausschliesslich in ihrer Funktion als Zahlungsmittel gesehen wird und somit nicht den Wertpapiergesetzen untersteht. Das aber ist gerade die jüngste Tendenz, und die Regulatoren in den USA, China, Japan verfolgen jeweils eine unterschiedliche Linie zu den ICOs.
Crypto Valley Association in Zug findet klare Worte zur Token-Manie
Wie die Crypto Valley Association in Zug in ihrem Statement zu „Token Sales“ vom 7. September schreibt, fanden vier der fünf grössten ICOs in der Schweiz statt und generierten zusammen mehr als 600 Mio. USD an Fundraising Volumen. In dem Statement wird auch gewarnt vor Exzessen und kriminellen Machenschaften, die sich die Unbekümmertheit der Anleger zunutze machen wollen. Damit, so scheint es, sind die Unternehmen, die ernsthaft die Technologie entwickeln und daher auch nahe am Markt sind, beim Anlegerschutz und in der Verantwortung weiter als die Regulatoren, die bisher zuschauen, obwohl es offensichtlich gerade bei den ICOs in der Schweiz um Unternehmensfinanzierung mit externen Anlegern geht. Somit sollten auch die Wertpapiergesetze gelten! Ansonsten bleiben Tür und Tor für Betrügereien nach dem Ponzi-Schema weit geöffnet.