Das Gottlieb Duttweiler Institut, benannt nach dem legendären Migros-Gründer, befindet sich in der idyllischen Seegemeinde Rüschlikon. Dort hat der neue Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen Anfang Jahr sein Kader auf einen neuen Kurs gebracht. Zumbrunnen zeichnet das Bild einer Migros unter Druck, eines Giganten mit offenen Flanken. Der orange Riese hat zwar das letzte Jahrzehnt nicht schlecht gemeistert. Den seinerzeit gefürchteten Markteintritt von den deutschen Discountern Aldi und Lidl konterte der Vorgänger auf dem Chefposten, Herbert Bolliger, mit der Übernahme von Denner. Mit dem Zukauf von Digitec ist es der Migros zudem gelungen, im E-Commerce Fuss zu fassen. Doch wird das genügen?
E-Commerce-Wachstum setzt sich mit voller Kraft fort
Laut den Marktforschern der Credit Suisse dürfte sich das in der Vergangenheit beobachtete E-Commerce-Wachstum in den nächsten Jahren mit voller Kraft fortsetzen. Die Studie Schweizer Detailhandel im Umbruch geht davon aus, dass der Online-Anteil am gesamten Detailhandelsumsatz in der Schweiz 2022 10% ausmachen wird. Wenn Konsumenten ihre Einkäufe zunehmend digital erledigen, haben bisher kleinere Retail-Anbieter ohne Online-Angebot leiden müssen. Was ihnen das Leben noch erschwert: Zunehmend beherrschen dieselben Marken und Ladenketten das Stadtbild in der Schweiz, was den kleinen Einzelanbietern wenig Spielraum lässt. Eine regelrechte Krise herrscht inzwischen in der Textilbranche. Spektakulärstes Opfer ist derzeit das italienische Modehaus OVS. OVS beendet sein Schweizer Abenteuer, das mit der Übernahme von Charles Vögele begann, mit einer Nachlassstundung. 140 Läden suchen jetzt neue Mieter. Der Niedergang im traditionellen Kleiderhandel entspricht einem Trend, wie die NZZ kürzlich berichtete. Laut den Zahlen von GfK Schweiz gehen die Quadratmeter-Umsätze in den Kleiderläden seit 2010 jährlich um 4 bis 5% zurück. Rasanter schrumpfen die Ladenverkäufe nur in der Elektronikbranche (-6% pro Jahr). Inzwischen macht sich auch in den grossen Einkaufszentren die Einsicht breit, dass der Wettbewerb härter wird.
Noch kein Mall-Sterben in der Schweiz
Mitte der 1990er Jahre öffneten in den USA rund 140 neue Shopping Malls ihre Tore. Heute zirkulieren in den sozialen Medien Bilder über verlassene Mall-Ruinen. Wo früher buntes Treiben herrschte, bleibt nur noch gähnende Leere. Die Kehrtwende kam mit der beginnenden Rezession von 2007. Die für die US-Wirtschaft wesentlichen Konsumzahlen verringerten sich. Der rasante Erfolg des Online-Handels tat sein Übriges, um vielen Konsumtempeln den Todesstoss zu versetzen.
Mit der Schliessung des fast neuen «Centro Ovale» Ende 2015 in Chiasso kann die Schweiz ebenfalls ihre «Dead Mall» vorweisen. Ausgeweitet hat sich das Phänomen nicht. Doch für die bestehenden und neuen Shopping-Centers gibt es noch keine Entwarnung. Das Einkaufs- und Freizeitzentrum Mall of Switzerland, das im November letzten Jahres im luzernischen Ebikon seine Tore öffnete, ist das seit langem grösste Projekt seiner Art. Mit 65’000 m² Gesamtmietfläche ist die Mall das zweitgrösste Einkaufszentrum der Schweiz.
Skeptiker warnen vor Überkapazitäten
Laut Website der Gemeinde Ebikon leben rund 30’000 Menschen bereits in der östlichen Region von Luzern, wo sich das Center befindet. In den Gemeinden Buchrain, Dierikon, Ebikon, Gisikon, Honau, Inwil und Root wird ein Bevölkerungswachstum von 30% bis zum Jahr 2030 erwartet; die Anzahl Beschäftigter dürfte gemäss Prognosen im Vergleich zu heute um 40% ansteigen. Ob diese Menschen auch wirklich zu Mall-Stammkunden werden, dürfte letztlich über den Erfolg des Einkaufszentrums bestimmen. Skeptiker warnen derzeit vor Überkapazitäten. Die Verkaufszahlen im klassischen Detailhandel sind seit 2010 mehrheitlich rückläufig; die meisten Shoppingcenter verbuchen laut GfK Umsatzrückgänge. Kommt hinzu, dass die Zahl der Einkaufszentren stark zugenommen hat. Gab es im Jahr 2000 erst 110 klassische Shoppingcenter von über 5’000 m² Grösse, sind es heute 197, wobei die fünf grössten Bahnhöfe und der Airport Shopping am Zürcher Flughafen dazugerechnet sind.
Gastronomie im Vormarsch
Wie sich ein Shopping-Center in diesem Umfeld strategisch ausrichten muss, erforscht Marcel Stoffel. Von 2000 bis 2010 war er Geschäftsführer des Einkaufzentrums Glatt in Wallisellen, das mit über 600 Mio. CHF umsatzstärkste Shopping-Center der Schweiz. Den wichtigsten Treiber für die jetzigen und künftigen Einkaufzentren sieht Stoffel in der Nutzung. «Früher gab es in einem klassischen Shopping-Center etwa 95% Detailhandel und 5% Gastronomie», sagt Stoffel. Die meisten Center funktionieren laut Stoffel auch als Nahversorger für eine Region, denn meistens gibt es eine Migros- oder Coop-Filiale. Exponiert sind die Grossverteiler in doppelter Hinsicht, denn laut Stoffel gehören rund 60% aller Einkaufszentren dem Dreiergespann Coop, Migros und Manor. Laut den Prognosen des von Stoffel publiziertem Shoppingcenter Marktreport Schweiz 2018 wird es in den nächsten fünf bis acht Jahren auf rund 25% der gesamten Verkaufsfläche (ca. 2.8 Mio. m2) zu einer «Umnutzung» kommen.
Dies bedeutet, dass von den rund 5’500 Geschäften, welche aktuell in den Centern eingemietet sind, rund 1’000 Geschäfte geschlossen und die Flächen umgenutzt werden. Die einfache Formel dazu lautet: mehr Service und Dienstleistungen und weniger Retail. Die Gastronomie ist schon seit einiger Zeit im Vormarsch. Immer häufiger finden Besucher Kosmetik- oder Fitnessstudios, aber auch Arztpraxen unter dem Dache eines Centers. Die Verantwortlichen der neuen Projekte haben die Freiheit, grossflächige Freizeitangebote zu lancieren, während die Betreiber von älteren oder kleineren Centern jetzt im Nachhinein Dienstleister suchen müssen, die etwas mit den ehemaligen Ladenflächen anfangen können.
Die Surfwelle ist verschoben
Bereits realisiert im «Mall of Switzerland» ist die grossflächige Kinderwelt, ein Multiplex-Kino und ein Fitnesszentrum mit allem Drum und Dran. Verschoben hingegen ist die Eröffnung der Indoor-Surfwelle, dem eigentlichen Clou des Freizeitangebotes. Gemäss dem Immobiliendienstleister Freo Group ist die Flächenproduktivität in allen drei Bereichen, d.h. Retail, Freizeit und Gastronomie, vergleichbar. Die Verschiebung des Angebots führt also nicht zu tieferen Renditen. Zudem ist der Erlebnisbereich im Gegensatz zum Detailhandel ein stark wachsender Markt. Allerdings hat der Luzerner Einkaufstempel noch keine volle Auslastung im Retail geschafft. Die im obersten Stockwerk fantasievoll bemalten Wände täuschen nicht darüber hinweg, dass ein Teil der Ladenfläche (etwa 15%) noch auf Mieter wartet.
360-Grad-Ansicht der Kunden
Laut Cornelius Kistler, Investor und Managing Partner bei ClickOn, ist vielen Entscheidern in der Branche noch unklar, was Retail dem aus Kundensicht einfacheren Online-Handel entgegensetzen soll. Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, müssen richtig eingesetzt werden. Aber es wird auch darum gehen, neue Erlebnisse zu gestalten, um die Besucher länger im Shop zu halten, oder überhaupt zu einem Besuch zu animieren. Neue Technologien wie Virtual bzw. Augmented Reality, Digitale Kampagnen oder Verkäufer-Pads sind zwar clevere Werkzeuge, doch vorerst braucht es dafür Grundlagenarbeit beim Datenmanagement.
Viele Datenquellen sind laut Kistler vorhanden, doch nach wie vor werden diese in Expertensilos gemanagt, auf verschiedene Abteilungen verteilt und mit unterschiedlichen Prozessen analysiert. Mit der Verbindung und Konsolidierung all dieser Datenquellen wäre eine sogenannte 360-Grad-Ansicht des Kunden erhältlich. Konkret stellt sich der Digitalexperte vor, dass die Verkäufer «an der Front» ein simples Cockpit mit der genannten 360-Grad-Ansicht erhalten, in dem Daten aus dem Kassensystem, dem Online-Shop, der E-Mail-Kampagne, dem Loyalty-Programm, den Website Analytics und weiteren Datenquellen übersichtlich aufbereitet werden. Für den Shoppingcenter-Experten Marcel Stoffel ist allerdings die Grundhaltung entscheidend. «Im Retail-Bereich muss ein Umdenken stattfinden. Anbieter müssen einen echten Mehrwert für den Kunden aus den Daten generieren.»