Im Brennpunkt: Cargo sous terrain – „Gotthardprojekt des 21. Jahrhunderts“?

Privatwirtschaftliches Gesamtlogistiksystem für die Schweiz

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In der Endausbaustufe 2050 wird das 500 km lange Tunnelsystem CST von St. Gallen bis Genf und von Basel bis Luzern reichen sowie Thun mit einem Seitenarm anbinden. Bild: cst.ch

Es begann 2010 mit einer Vor-Machbarkeitsstudie, Anfang 2021 steht das Projekt Cargo sous terrain nun kurz vor der Baubewilligungsphase des ersten Abschnitts und der Verabschiedung der erforderlichen Gesetze. Bei Cargo sous terrain handelt es sich um ein ambitioniertes Generationenprojekt mit breiter Unterstützung der Schweizer Wirtschaft. Es wird nicht zu Unrecht mit dem historischen Gotthardprojekt verglichen. Worum genau geht es?

Wie beim Gotthardtunnel geht es um die Verkürzung der Transportwege, also die Steigerung der Effizienz in der Wirtschaft – und damit die Schaffung und den Erhalt von Wohlstand. Die Realisierung der Endausbaustufe ist nicht vor 2050 zu erwarten. Die Gesamtkosten werden auf 33 Mrd. CHF geschätzt.

Stand 2012/2013 wurde durch das Bundesamt für Strassen und das Bundesamt für Raumentwicklung eine Zunahme des Güterverkehrs in der Schweiz bis 2040 um bis zu 37% prognostiziert. Doch die Städte und Ballungszentren waren ebenso wie die Verkehrsnetze bereits absehbar an ihre Grenzen gestossen. Noch mehr Strassen, noch mehr Güterverkehr und noch mehr Verkehrslärm und Abgase – das wollen die wenigsten Schweizer.

Meilensteine der Projektentwicklung

2011 war aus der ersten Initiative und Anschubfinanzierung durch Migros und Macan die Projektgruppe Cargo sous terrain entstanden. 2013 wurde daraus der Förderverein mit bereits breiter Beteiligung der Privatwirtschaft. Eine 2015 erstellte Machbarkeitsstudie fand 2016 die Unterstützung des Bundesrats. Die Cargo sous terrain AG wurde dann 2017 gegründet. Vier Kantone zeigten Interesse an dem Projekt, dessen vorrangiges Ziel die Verminderung des Schwerverkehrsaufkommens ist.

Breites Aktionariat

Zu den Aktionären und Partnern zählen heute viele Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen, darunter aus der ersten Stunde Mobiliar, Coop, Migros, die Post, SBB Cargo, Rhenus, ZKB und Swisscom. Dazu stiessen weiterhin u.a. CS, Helvetia, der französische Infrastrukturentwickler Meridiem und der chinesische Infrastrukturfinanzierer Dagong Global Investment Holding. Später folgten weitere neue Aktionäre wie Panalpina, Flughafen Zürich, Vaudoise und WIR Bank.

Vorteile des Gesamtlogistiksystems

Kurz gesagt repräsentiert CST ein Gesamtlogistiksystem für den kleinteiligen und kontinuierlichen Gütertransport in und zwischen den Ballungsräumen in der Schweiz. In der Endausbaustufe 2050 wird ein 500 km langes Tunnelsystem von St. Gallen bis Genf und von Basel bis Luzern reichen sowie Thun mit einem Seitenarm anbinden. Diese intelligente und vernetzte Mobilitätslösung unter der Erde wird den Lieferverkehr in den betroffenen Städten um bis zu 30% entlasten und die Lärmemissionen um bis zu 50% senken. Die CO2-Einsparung beträgt sogar 80%, da die Energie bei CST zu 100% aus erneuerbaren Quellen stammt.

Effizienz im Gütertransport

Die zahlreichen Einzelbelieferungen von Läden, Händlern, Supermärkten, Einkaufszentren usw. werden mit dem neuen System überflüssig. Die Auslieferungen werden, inklusive der Kühlwaren, zukünftig in zahlreichen Hubs über ein durch IT-Systeme gesteuertes automatisches Fördersystem intelligent zusammengestellt und von selbstfahrenden, unbemannten Transportern pünktlich zu den Empfangsdestinationen gebracht. CST bietet für die letzte Meile ein nahtloses Anbindungssystem an die Transportwege Strasse, Schiene, Wasser und Luft an. Auf den Strassen sollen nur emissionsfreie Lieferfahrzeuge verwendet werden.

Erste Etappe

Der erste Bauabschnitt ist die Teilstrecke von Härkingen-Niederbipp nach Zürich. Erwartet wird, dass die Baubewilligung in Kürze erteilt und bereits im Frühjahr 2021 die für den Bau und Betrieb der unterirdischen Tunnelsysteme erforderlichen Gesetzesänderungen verabschiedet werden. Dann kann die Mittelfreigabe durch die inzwischen 70 Investoren erfolgen. Dieser 70 km lange erste Abschnitt soll bis 2031 fertiggestellt sein und neben dem Tunnelsystem auch 10 sogenannte City-Hubs zur Be- und Entladung umfassen. Die Kosten werden auf 3 Mrd. CHF veranschlagt. Das deckt auch die Kosten ab für die City-Logistik, also die Verteilung an die Empfänger ohne Schienenanschluss. Das System dient auch der Entsorgung von Verpackungs- und Recyclingmaterial. Die Einsparung an CO2-Äquivalenten beträgt 40’000 Tonnen jährlich.

Breite Unterstützung

Bis vor kurzem wurde dem Projekt noch reichlich Skepsis entgegengebracht, doch inzwischen überwiegen Unterstützung und Fürsprache, nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern quer durch die ganze Gesellschaft. Allerdings wird das CST-Projekt auch noch viel Fürsprache brauchen, denn die meisten Schweizer haben noch nie davon gehört. Ein wichtiger und sympathischer Aspekt ist die rein privatwirtschaftliche Finanzierung, Subventionen werden nicht gesucht oder in Anspruch genommen. Monika Rühl von economiesuisse drückt es so aus: „Ein Projekt in bester Tradition der Schweizer Wirtschaft: Private Initiative und Gelder befähigen zusammen mit innovativer Kraft zu Ausserordentlichem.“ Mehrere Unterstützer und Financiers haben den Vergleich mit dem historischen Gotthardtunnel bemüht und bezeichnen CST unumwunden als „Gotthardprojekt des 21. Jahrhunderts.“

Vorteile und Nachteile

Zu den wesentlichen Vorteilen zählen die Verminderung von Lärm, Abgasen und Verkehrsaufkommen. Dies bringt Lebensqualität für alle Bürger, vermindert die Schädigungen der Gesundheit und steigert die Attraktivität des urbanen Raums. Die Öko-Bilanz fällt nach fundierten Schätzungen um bis zu 80% besser aus. Dennoch sollten auch andere Aspekte nicht übersehen werden. Hocheffiziente, IT-gesteuerte und automatische Systeme in der Grössenordnung von CST schaffen auch Arbeitsplätze, doch sehr viel weniger als wegfallen werden. Die Packer, Prüfer, Fahrer und Speditionen, die bisher die Arbeit leisten, werden durch intelligente Fördersysteme und Roboter abgelöst. Künstliche Intelligenz wird auf der Basis der Bestell- und Lieferdaten die herkömmliche Statistik und das Bestellwesen sowie die damit betrauten Mitarbeitenden ablösen.

Die Argumente der Kritiker

Kritik kommt u.a. vom Verband des öffentlichen Verkehrs (VöV), der die Interessen von 130 Transportunternehmen vertritt. „Wir glauben nicht, dass sich das Projekt eigenwirtschaftlich betreiben lässt“: so liess sich VöV-Direktor Ueli Stücklberger in der NZZ zitieren. Das Projekt sei zu teuer und zu aufwendig. Die zerstreute Siedlungs- und Produktionsstruktur der Schweiz spreche gegen das Projekt. Die eigentliche Sorge aber gilt der Wirtschaftlichkeit des bestehenden Gütertransportsystems. Befürchtet wird, dass der verbleibende Transport nicht mehr kostendeckend betrieben werden kann.

Der chinesische Aspekt

Der chinesische Investor sagt: “China braucht Cargo sous terrain dringender als die Schweiz.“ Sein Ziel ist es, das System nach China zu bringen. Dort gibt es allein mehr als 20 Metropolen mit über 10 Mio. Einwohnern. Und sehr viele Millionenstädte. Ihnen allen ist gemein, dass der Verkehr die bestehende Infrastruktur bei weitem überfordert. Zukunftsfähige Lösungen sind gefragt, von denen CST eine sein kann. Bestimmt ist der Eintritt in den chinesischen Infrastrukturmarkt auch ein gewichtiger Punkt, der für das finanzielle Engagement der Schweizer Unternehmen mit ausschlaggebend war.

Fazit

Mit der fortschreitenden Automatisierung vieler Abläufe im Wirtschaftskreislauf verbinden sich sowohl Chancen als auch Risiken. Positiv an dem Gesamtlogistikkonzept CST sind die Steigerung der Effizienz im Gütertransport und die signifikante Verbesserung der Öko-Bilanz. Doch starke Verbesserungen in der Produktivität gehen zwangsläufig zulasten des Faktors Arbeit sowie gegen die weniger produktiven Wettbewerber. Es ist eine Frage der Prioritäten, wie diese Faktoren austariert werden, zumal in einem Markt, der ohnehin schon oligopolartige Strukturen aufweist. Zudem sind Staat, Kantone und Behörden in einer besonderen Verantwortung gegenüber den Bürgern, nicht zu deren Nachteil zu agieren, insbesondere wo es um genehmigungspflichtige Infrastrukturprojekte geht. Ein anderer Aspekt betrifft die nationale Psyche. So wie das vollendete Gotthardprojekt den guten Ruf der Schweiz in aller Welt bis heute prägt, kann auch ein neues innovatives Projekt die Bande im Land erneuern und vielleicht sogar den Pioniergeist von Erfindern, Wissenschaftlern, Unternehmern und Ingenieuren inspirieren, um neue Lösungen für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu finden.

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