Ich habe wenige Erinnerungen an die Grundschule. Nur noch ein Erlebnis ist sehr deutlich.
In den späten 1970er Jahren entwarfen wir im Malunterricht unsere Vision der Zukunft. Das Jahr 2000 klang noch sehr utopisch. Ich malte damals lauter glitzernde Wolkenkratzer und Raumschiffe. Kürzlich tauchte diese Erinnerung wieder auf, als ich mir die ultimative Modellstadt aller Smart Cities anschaute.
Das südkoreanische New Songdo ist auf einer sechs Quadratkilometer grossen Aufschüttung im Gelben Meer entstanden, 45 Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt Seoul entfernt. Städteplanern hüpft wahrscheinlich das Herz im Leibe bei der Erwähnung dieses Megaprojektes. Millionen Sensoren sind in der Stadt verteilt und liefern Daten an einen Zentralrechner, der die städtischen Dienste so effizient wie möglich steuert. Es gibt ein unterirdisches Entsorgungssystem, wo über Rohre die Abfälle aus Büros und Haushalten zu einer Recycling-Zentrale gelangen. Die Ampeln reagieren auf das aktuelle Verkehrsaufkommen. Über Bildschirme in den Wohnungen ist man in Kontakt mit den Behörden. Big Brother lässt grüssen.
Bis 2020 soll Songdo die „smarteste“ Stadt der Welt werden, umweltfreundlich, energieeffizient, intelligent vernetzt. An positiven Attributen mangelt es nicht, aber dafür fehlen die Menschen. Ironischerweise ist die modernste Megastadt derzeit nur bei Senioren richtig beliebt. Sie fühlen sich sicher bei ihren Spaziergängen dank der an jeder Ecke präsenten Überwachsungskameras. Das bestärkt einfach wieder die Einsicht, dass sich Menschen nicht einfach ansiedeln, wo es am meisten Platz hat, sondern wo es schon viele Menschen gibt. Wer isst schon gerne in einem leeren Restaurant? Ist hier wohl wieder eine Modellstadt für Modellbewohner entstanden, also für Menschen, die nur auf dem Reissbrett existieren. Und was bedeutet eigentlich das Wörtchen „smart“?
«Steckt dahinter nur eine besonders fortschrittliche Technik? Oder eine Technik, die dafür sorgt, dass die Verantwortlichen einer Stadt klüger werden und beginnen, die Bewohner besser zu verstehen und einzubinden?», fragt Jeff Rison rhetorisch in einem Interview mit dem Architekturmagazin «arc». Jeff Risom ist US-Chef des Stadtplanungsbüros Gehl, gegründet von Jan Gehl, einem Pionier der Stadtplanung aus Dänemark. Gehl hatte bereits vor mehr als 50 Jahren die Idee, urbane Räume nicht abstrakt an Zeichenbrettern oder Konferenztischen zu entwerfen. Er fuhr also nach Italien, setzte sich in ein Café und beobachtete die Menschen. Akribisch schrieb er auf, wohin sie gingen, wo sie stehen blieben, welche Cafés beliebt waren. Mit diesen Erkenntnissen entwarf Gehl in seiner Heimatstadt Kopenhagen ein völlig neues City-Konzept. Das Zentrum wurde zur verkehrsberuhigten Zone. Es entstand die längste Fussgängerzone des Kontinents. Heute hat fast jede europäische Metropole Teile dieses Konzepts übernommen, doch in den 70er Jahren war es üblich, Verkehrsschneisen durch die Zentren zu ziehen, ohne jegliche Rücksicht auf mögliche Anwohner. Noch heute leiden gewisse Städte an den Spätfolgen dieser Politik
Grosse Erwartungen in der Wüste
Bei dem gegenwärtigen Hype – jede Stadt möchte smart sein – tut es den Stadtplanern wohl gut, aus den Erkenntnissen und Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um die Stadtentwicklung an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger anzupassen und nicht umgekehrt. Das Fachmagazin Technology Review hat kürzlich ein paar Beispiele vorgestellt, wo einiges schiefgegangen ist.
Zum Beispiel in Masdar City, 16 Kilometer von Abu Dhabi entfernt. Eine umweltfreundliche Zukunftsstadt mitten in der Wüste, geplant für etwa 50’000 Menschen. Das weltgrösste Solarkraftwerk liefert Energie, der Müll gelangt in einen perfekten Recycling-Kreislauf. Ein unterirdisches System führerloser Kabinen bringt jeden Bürger auf mindestens 200 Meter an das nächste Gebäude. Autos wären demnach überflüssig. Wären, denn in Tat und Wahrheit ist der auf 2016 geplante Projektabschluss verschoben worden. Erst die Hälfte der Stadt ist gebaut, das Transportsystem fährt nur zu Demonstrationszwecken, die etwa 3000 Menschen zählende Bürgerschaft möchte auf Autos nicht verzichten. Die CO2-Bilanz ist nicht publiziert. Das Projekt hat einen zweistelligen Milliardenbetrag verschlungen.
Eine bestehende Stadt, die unter Infrastrukturproblemen leidet, smart zu machen, war hingegen die Leitidee für die spanische Hafenstadt Santander. 20’000 Sensoren hat die Universität von Kantabrien in der 180’000-Einwohner-Stadt installiert. Autofahrer haben via App eine Nachricht gekriegt, wenn ein Parkplatz frei wurde. Die Strassenbeleuchtung hat sich automatisch ausgeschaltet, wenn niemand unterwegs war. Polizeiwagen, Taxis und Busse haben fleissig Daten gesammelt über das Wetter, die Luftqualität, Verkehrsdichte usw. Doch leider haben sich nach dem Abflauen des Medieninteresses die alten Verhältnisse wieder eingespielt. Weil die Sensoren zu unzuverlässig sind, verstopfen die Müllautos wieder die Strassen. Die Müllmänner erhielten kürzlich Smarttelefone von ihrem Arbeitgeber, der sie über GPS-Tracking bei der Arbeit kontrolliert. Smart sieht anders aus.
Studien im Schwabenland
Gut möglich, dass diese Negativbeispiele Städte zur Vorsicht erziehen. Statt teure Infrastruktur vom Stapel laufen zu lassen und für eine Weile die Medienaufmerksamkeit zu geniessen, will die schwäbische Stadt Heidenheim in erster Linie mal Erfahrungen sammeln. Seit Anfang Oktober untersucht die Stadt in Baden-Württemberg vier Anwendungsmöglichkeiten für Smart-City-Technologie. So soll beispielsweise ersichtlich werden, wann und wo die Menschen in Heidenheim unterwegs sind, ob sie dabei zu Fuss gehen, das Fahrrad oder das Auto nutzen. Im Boden eingelassene Müllbehälter erhalten einen Sensor, so dass sie nur dann zur Leerung angesteuert werden, wenn sie auch wirklich voll sind. Ferner werde in dem Test ersichtlich, wo und wie viele Personen sich beispielsweise in einem Schulhof aufhalten und Lärm, Schmutz oder Sachbeschädigungen verursachen. Mit „Ich für uns“ schliesslich bringt die Stadt laut eigenen Angaben Menschen, die Hilfe brauchen und solche, die Hilfe anbieten, zusammen. Für den Test arbeitet Heidenheim unter anderem mit Fujitsu zusammen. Heidenheim informiert die Bürger via Website und geht insbesondere auf Bedürfnisse und Fragen hinsichtlich Datenschutz ein. Beispielsweise erfahre ich, dass in der Ortschaft installierten Kameras keine Videos aufzeichnen; stattdessen zählt die Software in Echtzeit den Verkehr und speichert nur die Ergebnisse, nicht das Bild.
Smart City in der Schweiz noch in den (politischen) Kinderschuhen
Obwohl sich die Schweiz gerne zumindest von Regierungsseite gerne als weltweit führender Technologiestandort sieht, scheint die Smart-City-Bewegung noch nicht über den Ideen-Status herausgegangen zu sein. Immerhin hat mal der Bund in diesem September die Schwerpunkte der neuen Strategie „Digitale Schweiz“ verlautbaren lassen. „Künstliche Intelligenz“ soll dazugehören, aber auch das Thema Smart Cities. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) soll bis Mitte 2019 ein entsprechendes Konzept und einen Massnahmenplan erarbeiten. Dieser soll Städten oder Kantonen dienen, die Smart Cities oder vernetzte Regionen aufbauen möchten.
Vielleicht bietet sich die Chance, das Beste aus erfolgreichen Projekten zu übernehmen. Die Stadt Zürich hat schon diesen Sommer angekündigt, dass sie auf „Grössenwahn“ und „teure PR-Projekte“ verzichten möchte. Proof Point ist ein digitaler Schalter namens „Mein Konto“, wo die Zürcher und Zürcherinnen künftig Dienstleistungen der Behörden beziehen könnten. Allerdings fehlt bis heute die elektronische Identität, um sich für gewisse virtuelle Behördengänge auszuweisen. Ob es der Sache förderlich ist, dass gewisse Absichten bereits in wohlklingenden Strategiepapieren verankert sind, bleibt mal dahingestellt. Auch im digitalen Zeitalter bleibt wohl Papier geduldig.
Hierzulande geben die Unternehmen den Takt vor
Kein Wunder, wenn die Unternehmenswelt hier bereits einen grossen Schritt weiter gegangen ist. An der letztjährigen Smart-Suisse-Konferenz in Basel hat die SBB ihre Absicht bekundet, Areale im Besitz der Bahn in smarte Quartiere zu verwandeln. Wer einen Überblick über Unternehmen sucht, die sich auf Smart-City-Technik spezialisieren, braucht nur einen Blick aufs Austellerverzeichnis zu werfen. Neben den üblichen Platzhirschen im Technologiebereich wie Microsoft, Cisco, SAP, Siemens, Swisscom sollte der Blick auch auf die recht agile Start-up- und KMU-Szene gerichtet werden. Auffällig sind die vielen KMU, die sich auf Parkplatz-Lösungen oder Mobilität spezialisieren. Gut vertreten sind ebenfalls Firmen, die sich auf Datenmessung und Datenanalyse sowie Kartographie fokussieren. Solide Präzision, wenn auch nicht unbedingt revolutionär. Gibt es vielleicht hierzulande zu wenig Leidensdruck?
Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass die Weltbevölkerung bis 2050 um 2,5 Milliarden Menschen zunimmt. Diese Menschen werden in den entwicklungsstarken Kontinenten wie zum Beispiel Afrika oder Asien vor allem in die Städte ziehen. Für diese Menschen reichen die bisherigen Städte nicht aus, so dass wir immer mehr neue Städte werden entstehen sehen. Schweizer Unternehmen werden wohl Marktnischen finden, Wissen exportieren, den bekannten Swiss Finish anstreben; aber eine Stadt auf der grünen Wiesen wird es wohl in naher Zukunft nicht geben. Und die Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind ja ohnehin bezüglich Lebensqualität auf den weltweiten Spitzenplätzen. Smart Country wäre in diesem Sinne eine interessante, linguistisch-räumliche Erweiterung.