Macro Perspective: Kraftproben der Supermächte und das «Climate Endgame»

Bruchlinien im internationalen Wirtschaftsgefüge

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Schlachten an Orten, die niemand kennt. Bild: stock.adobe.com

«Selten ist in Europa überall Frieden, und nie geht der Krieg in den anderen Weltteilen aus.» Carl von Clausewitz, 1780-1831, Militärwissenschaftler

Der Ukrainekrieg ist das eine, und alle Augen sind auf Schlachten an Orten gerichtet, die niemand kennt und deren Namen unaussprechlich sind. Die chinesischen Manöver um Taiwan sind das andere, und weil es weit weg ist, freuen sich die Schweizer scheinbar lieber über die vier chinesischen Neuzugänge an der SIX, die immerhin 1.6 Mrd. Euro bei ihren IPOs einnahmen. Die Grosswetterlage erscheint jedoch überall auf der Welt trügerisch. Ist es die Ruhe vor dem Sturm?

Das Klima zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und Russland und China andererseits hat sich 2022 so stark verschlechtert wie noch nie, vielleicht mit Ausnahme der Kuba-Krise – und die liegt 60 Jahre zurück. Vieles hat sich seitdem geändert, nicht jedoch die Feindbilder und die Mechanismen, die zu Konflikten und Kriegen führen. Für jeden neuzeitlichen Historiker liegt es auf der Hand, dass die gegenwärtige Situation in fataler Weise an die Entstehungsgeschichte der beiden Weltkriege erinnert.

Krieg als Scheinlösung

Wie damals sind Nachfrage- und Kaufkraft weiter Teile der Bevölkerung eingeschränkt. Wie damals ist die allgemeine Verschuldung hoch. Und ebenfalls wie damals drohten deflationäre Kräfte das Wachstum abzuwürgen. Die Lösung ist Aufrüstung und Krieg, denn eins führt zum anderen, und beide sorgen praktisch als Nebenprodukt zwangsläufig für Inflation und damit Schuldenreduzierung, zumindest real. Unzufriedenheit, Bürgerproteste, das Aufkommen starker oppositioneller Kräfte – innerhalb und ausserhalb der Parlamente – sowie das Debakel der öffentlichen Finanzen wirken zusammen, um eine politische Kurskorrektur vorzunehmen, bei der die Verantwortung für alles, was schief läuft, auf die «Gegner» und «Feinde» abgewälzt wird.

Diplomatie am Ende?

Und auch wie damals droht das Konfliktszenario zu eskalieren, weil geradezu bilderbuchmässig jeder Schritt der einen Seite mit einem Gegenschritt auf der anderen Seite fortgeführt wird. Die Zeit der Verbalinjurien scheint vorbei. Der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan war weder sinnvoll noch erforderlich, sondern ein Signal oder politischer Testballon. Für China aber war es eine Provokation, wie der Botschafter Chinas in London es unmissverständlich ausdrückt und seinerseits eine «rote Linie» zieht. Die chinesischen Manöver waren ebenfalls ein klares Signal, wurden aber im Westen als Provokation gewertet. China verlängert die Manöver – und setzt gleich neue nach der Beendigung an …

Hineingestolpert und unschuldig

Hinterher, nach den beiden Weltkriegen, haben alle Beteiligten unisono ihre Unschuld beteuert. Es sei keine Absicht gewesen, sondern eins hätte das andere gegeben, und so sei man schliesslich verwickelt worden – und plötzlich war der Krieg entbrannt, und es gab kein Zurück mehr. So scheint es, nach den Präliminarien zu urteilen, auch heute. Und kaum jemand erkennt die extreme Gefahr.

Verzerrungen der Propaganda

Russland ist der Lieblingsfeind, schon aus historischen Gründen. Das Bild, das im Westen von Putin gezeichnet wird, ähnelt zunehmend einer Rasputin-Karikatur und hat nurmehr wenig mit der Realität zu tun. Starke und notfalls ins Bizarre verzerrte Feindbilder sind jedoch von jeher Teil einer jeden politischen Propaganda, insbesondere im Krieg oder während der Vorbereitungen dazu.

Neue Achse Russland-Nordkorea

Die Polarisierung zwischen Russland und den USA hat ebenfalls einen neuen Tiefstand erreicht. Nachdem die USA Russland zu der Liste der Staaten hinzugefügt hat, die Terror unterstützen, warnte Putin nicht nur, sondern liess auch gleich Taten folgen. Nun sollen die Beziehungen mit Nord-Korea ausgebaut werden – also einem der sogenannten «Schurkenstaaten» aus der Vor-Trump-Ära.

Star Wars II

Der autokratische Herrscher Nord-Koreas mit Ausbildung in der Schweiz droht schon seit Jahren damit, Langstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen über den Pazifik bis in die USA bringen zu können. Und bei der seit Jahren von den USA und Russland gemeinsam betriebenen Raumstation ISS wird Russland die stets auch in angespannten Zeiten aufrechterhaltene Zusammenarbeit vorzeitig beenden. Stattdessen soll eine eigene Raumstation etabliert werden, die auch militärisch genutzt werden kann – also «Star Wars II».

Die Diagnose Henry Kissingers

Die Ära der friedlichen Ko-Existenz der Systeme hat offensichtlich ihr Ende gefunden. Henry Kissinger, mittlerweile 99 Jahre alt und ein durchaus umstrittener Architekt der Nachkriegs-Weltordnung schon ab den 1960er-Jahren, sagte dieser Tage im Interview mit dem Wall Street Journal, dass die USA «am Rand eines Krieges mit Russland und China stehen, wegen Sachverhalten, die wir teilweise selbst geschaffen haben, ohne Vorstellung davon, worauf das hinausläuft und wozu es führen soll.» Und weiter: «Alles, was man tun kann, ist, die Spannungen nicht zu verstärken und Optionen zu schaffen, und dafür braucht man eine Zielsetzung.»

«Emotion des Moments» als Entscheidungsgrundlage?

Man kann zu Kissinger und seinem politischen Erbe stehen, wie man will, aber seine Weitsicht, das diplomatische Geschick und die Anwendung klarer Leitlinien und Zielsetzungen, wie er sie stets vertreten hat, das ist genau das, was den heutigen politischen Akteuren des Westens eindeutig fehlt. Deren Agieren ist wie unsere gegenwärtige Ära laut Kissinger «empfänglich für die Emotion des Moments», und damit alles andere als staatsmännisch, weise oder vernünftig.

Kampf der Welten?

In Europa bekommt man schon den Eindruck, dass der Krieg in der Ukraine ein «Kampf der Welten» sein soll, obwohl die Ukraine kein NATO-Mitglied ist. Die ständigen medienwirksamen Reisen von Ministern und Abgeordneten in die Kriegsgebiete und die in Talk-Shows zur Schau gestellte Betroffenheit tragen nicht nur wenig zu einer Lösung bei, sondern sind sogar hochgradig kontraproduktiv.

Gestörtes Gleichgewicht

Inzwischen sollte jedem klar sein, dass es nicht um Provinzen in der Ukraine geht oder den Zugang zum Schwarzen Meer, sondern schon um sehr viel mehr. Damit ist nicht der «Kornkrieg» oder die «Weaponization of Energy» gemeint, sondern das gesamte globale «Gleichgewicht», das immer stärker verloren geht. In Kissingers Denken spielen das Gleichgewicht zwischen Machtblöcken und deren strategische Zielsetzungen die entscheidende Rolle. Und beides hat sich vor allem in den letzten 20 Jahren gravierend geändert.

Wertemangel

Tatsächlich mangelt es im Westen hauptsächlich an realistischen und erstrebenswerten Zielsetzungen. Dies geht einher mit einem Niedergang der Werte – oder «Race to the Bottom», wie es heute heisst. Wie muss es auf die junge Generation und jeden zu kritischem Denken Fähigen wirken, wenn als Folge der Verbrennung fossiler Brennstoffe der Planet in Flammen steht und austrocknet – und jetzt als Konsequenz der NATO-Osterweiterungen Putin den Gashahn abdreht und deshalb wieder mehr Kohle verbrannt wird? Weshalb wird dem durchaus korrupten Nicht-NATO-Land Ukraine ein Schuldenerlass von 20 Mrd. Euro gewährt, während die humanitären Katastrophen im Jemen, in Sri Lanka oder in der Sahel-Zone einfach aus der öffentlichen Diskussion und den Medien gefiltert werden? Begrüsst wird dagegen, dass zahlreiche afrikanische Länder ihre Förderung von Öl und Gas steigern wollen.

Dürregebiet Europa

Angesichts der Tatsache, dass 2022 in Europa die grösste Dürre der letzten 500 Jahre von Klimaforschern konstatiert wird – Rhein, Donau, Po und viele weitere Flüsse sind ausgetrocknet und drohen zu Rinnsalen zu verkümmern – wirken die Verzögerungen der Energiewende sprichwörtlich wie Öl, das ins Feuer gegossen wird. Wenn Klimawissenschaftler sich ungefiltert äussern, dann ist offen vom «Climate Melt-Down» die Rede, der gar nicht mehr abzuwenden ist. Die letzten Wochen mit ihren Hitzerekorden in Europa und anderen Teilen der Welt geben lediglich einen Vorgeschmack. Denn die Durchschnittstemperaturen steigen weiter. 40 Grad Celsius werden in den kommenden Sommern keine Seltenheit mehr sein, sondern die neue Normalität. Die Emissionen werden weiter zunehmen, und selbst wenn sie auf dem aktuellen Niveau stehenbleiben würden, was völlig unrealistisch ist, würden die Temperaturen trotzdem steigen, weil die Treibhausgase eben lange in der Atmosphäre verweilen.

40 Grad Celsius – die neue Normalität? Bild: stock.adobe.com
Insel der Glückseligen?

Die Auswirkungen sind auch in der Schweiz nicht zu übersehen. So ist der Gefrierpunkt von im Sommer üblicherweise 3’000 bis 3’500 Metern über Meeresspiegel auf 5’000 Meter gesprungen, was die Gletscher noch schneller abschmelzen liess. Durch den Schmelzprozess werden abgestürzte Flugzeuge, Kletterer und Wanderer vom Eis freigegeben, darunter auch die leiblichen Überreste des Milliardärs Erivan Haub.

Dynamik der Klimakatastrophe

Wie das Beispiel mit dem Gefrierpunkt zeigt, sind die bisher verwendeten linearen Klima-Modelle völlig untauglich, um das wahre Ausmass der Veränderungen auch nur annähernd vorherzusagen. Dazu kommen Phänomene, die bisher kaum in die Modelle eingeflossen sind. So bedecken normalerweise sogenannte Stratocumuluswolken in grosser Höhe rund 20% der Erdoberfläche mit Schatten und senken so die Oberflächentemperatur. Deren Bildung ist jedoch in jüngerer Zeit zunehmend gestört. Bei einem völligen Ausbleiben ihrer Bildung würde die Temperatur sprunghaft um mehrere Grad ansteigen.

Bisher ist die Durchschnitttemperatur der Erde zum vorindustriellen Zeitalter ja nur um 1 Grad Celsius angestiegen – und die Folgen sind schon drastisch. Bei einem weiteren Aufheizen müssen die Konsequenzen fatal sein. Der Terminus «Climate Endgame» hat sich für dieses Szenario bereits etabliert.

Insofern ist die geopolitische Konfliktbereitschaft nur ein Stellvertreterkrieg für den eigentlichen Kampf gegen die nachhaltige Zerstörung des Planeten, seines Klimas und seiner bewohnbaren Ökosysteme.  Es kommt aber auch ein schwerer Mangel an vernünftigen Zielsetzungen zum Vorschein. Wenn die Erde unbewohnbar wird, ist es am Ende relativ egal, ob nun das demokratische Lager oder das autokratische auf unserem fragilen Planeten vorherrscht. Die Hitze kennt keine ideologischen Grenzen. Was in der gegebenen Not-Situation gefordert ist, sind Diplomatie und vernünftige Lösungen für die selbstgemachten Probleme unserer Zeit.

Und ausserdem, «Krieg ist die blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln»: So wird Clausewitz noch heute an Militärakademien gelehrt. Das sollten die einfallslosen Talk-Show-Politiker bedenken, bevor sie die Realität mit einem Video-Game verwechseln.

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