Es geht dem süssen Leben an den Kragen. Wir essen zu viel Zucker, das ist nicht gesund. Die Politik ergreift Massnahmen, um uns zu einem gesünderen Leben anzuhalten. Mit 110 Gramm pro Tag konsumiert die Schweizer Bevölkerung aktuell immer noch rund doppelt so viel Zucker pro Tag, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt.
Doch wie kann das sein? In den Regalen der Lebensmittelläden und Grossverteiler nimmt «gesund» einen immer grösseren Raum ein – dazu gehören auch Nahrungsmittel mit dem Label «Zuckerfrei», «30% weniger Zucker», «ohne Zuckerzusätze». Der Körper liebt süss. Doch mit dem Konsum von Zucker steigt das Risiko für Übergewicht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor übermässigem Konsum von Zucker, der Lebensmitteln zugesetzt wurde oder natürlicherweise in Honig, Sirup, Fruchtsäften und Fruchtsaftkonzentraten vorkommt. Ausgenommen ist jener Zucker, der von Natur aus in frischem Obst, Gemüse und Milch steckt. Hier haben die Forscher keine Hinweise auf gesundheitliche Nachteile gefunden.
Angabe nicht vorgeschrieben
Schon zum Frühstück konsumieren viele mehr als die empfohlene Tagesdosis Zucker. Und wissen nichts davon: Mit einem Bananenjoghurt aus dem Grossverteiler konsumiert man 24 Gramm zugesetzten Kristallzucker, eine Drei-Deziliter-Flasche Orangensaft transportiert 27 Gramm Fruchtzucker in den Magen. In den aufgedruckten Nährwerttabellen fehlen diese Zuckerangaben. Sie sind in der Schweiz nicht vorgeschrieben.
Doch das soll sich ändern. In der «Erklärung von Mailand» hatten Bundesrat Alain Berset, Schweizer Lebensmittelproduzenten und Vertreter des Detailhandels am 4. August 2015 Ziele zur Reduktion von Zucker vereinbart. Anfangs 2023 unterzeichneten in Anwesenheit von Berset zahlreiche Getränkeherstelle wie etwa Coca-Cola eine Verpflichtung zur Reduktion des Zuckergehalts in ihren Produkten. Der Zuckergehalt in Süssgetränken soll bis 2024 um 10% sinken. Die Erklärung nicht unterschrieben haben aber Branchengrössen wie Pepsi und Red Bull. Letzterer begründete dies damit, dass die enthaltene Zuckermenge zur Funktionalität eines Energydrinks notwendig sei. Um den Zuckerkonsum der Schweizer Bevölkerung zu senken, verkaufe Red Bull kleinere Dosengrössen.
Nestlé führt Nutri Score ein
Aber die Unternehmen machen auch von sich aus vorwärts – grossen Konzernen bleiben angesichts der Auflagen in der EU und den Vereinigten Staaten auch wenig Alternativen. So hat Nestlé im Oktober 2022 die Einführung der Lebensmittelampel «Nutri-Score» vollendet, angekündigt hatte der Schweizer Lebensmittelmulti die Einführung des «Nutri Score» im Jahr 2019. Die Kennzeichnung weist mit einem Buchstaben- und Farbensystem – vom grünen A bis zum roten E – aus, wie gesund Lebensmittel im Vergleich mit anderen Produkten derselben Kategorie sind. Bei der Bewertung fliessen positive und negative Nährwerteigenschaften mit ein, wie etwa der Gemüse-, Zucker-, Fett- oder Ballaststoffgehalt. Sämtliche Produkte, die in der Schweiz verkauft werden und vollständig im Besitz von Nestlé sind, tragen die Kennzeichnung nun auf der Vorderseite ihrer Verpackung.
14 Unternehmen haben sich mit der Unterzeichnung der Erklärung von Mailand dazu verpflichtet, den Zucker in Joghurts und Frühstücksflocken zu reduzieren. Bis 2024 soll der Zuckergehalt in Joghurts um 10% und in Frühstückscerealien um 15% reduziert werden, wie das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) in einer Mitteilung schreibt. Neu stehe auch die Reduktion des Salzgehaltes zur Debatte. Die 14 Firmen, welche die Erklärung von Mailand unterschrieben haben, sind: Aldi Suisse, bio-familia, Bossy Céréales, Coop, Cremo, Danone, Emmi Schweiz, Kellogg (Schweiz), Lidl Schweiz, Migros, Molkerei Lanz, Nestlé Suisse, Schweizerische Schälmühle E. Zwicky und Wander.
Milchverarbeiter auf Kurs
«Mit unserem immer breiteren Angebot an kalorienreduzierten und gesunden Produkten folgen wir dem Trend der Konsumentinnen und Konsumenten», sagt Simone Burgener, Sprecherin von Emmi. Der Milchverarbeiter unterstütze auch die Bestrebungen der Behörden, eine ausgewogene Ernährung gezielt zu fördern. Als Gründungsmitglied der Erklärung von Mailand setzt das Unternehmen seit 2015 auf einen schrittweisen Absenkpfad bei Jogurts. «Hier sind wir auf Kurs, bis Ende 2023 weitere 10% Zucker zu reduzieren», so Burgener. Auch unterstütze Emmi die Ausweitung auf Mischmilchgetränke und Quark-Produkte. Die Mischmilchgetränke wie ECL erfüllen bereits heute die Vorgaben des BLV.
«Unsere Produkte kommen bis auf wenige Ausnahmen – zum Beispiel bei unserem Nischenprodukt Kondensmilch in Tuben – ohne einen Zusatz von Kristallzucker aus», erklärt Marlène Betschart, Sprecherin der Hochdorf Gruppe. Generell führe Hochdorf als Milchveredler nur wenige Produkte für Endkonsumenten, sondern liefere der Schweizer Lebensmittelindustrie Ingredienzen, meist in Pulverform – wie beispielsweise das Walzenvollmilchpulver für Schweizer Milchschokolade. «Bei der Herstellung von Babynahrung und Anfangsmilch sind wir in der Zusammensetzung der Zutaten stark reguliert und fügen keinen Kristallzucker zu», sagt Betschaft. Hochdorf kaufe deshalb nur in kleinen Mengen Zucker ein. Der in der Kondensmilch verwendete Kristallzucker komme aus der Schweiz von der Zuckerfabrik Aarberg.
Ein Drittel Importe
Die Schweiz importiert rund einen Drittel des Zuckerbedarfs. Die Schweizer Zucker AG produziert rund 220’000 t Zucker im Jahr, im Inland nachgefragt werden dagegen rund 320’000 t. In diesen Zahlen ist nicht berücksichtigt, dass die Schweiz noch rund 100’000 t Zucker in verarbeiteten Produkten, wie etwa Kinderschokolade, einführt. Jedoch exportiert unser Land etwa die gleiche Menge ebenfalls in verarbeiteten Produkten.
«Die Bestrebungen, den Zuckeranteil in Lebensmitteln zu senken, wird bei der Schweizer Zucker AG zu keinem Nachfragerückgang führen – zumindest kurz- und mittelfristig nicht», sagt Raphael Wild, Leiter Kommunikation Schweizer Zucker AG. Wie das langfristig aussehe, wenn etwa «auch in Sachertorten kein Zucker mehr sein darf», sei dagegen schwer abzuschätzen.
Die Kunden sind frei in der Wahl des Lieferanten. Wer den günstigsten Zucker will, wird solchen aus Brasilien kaufen. Viele Schweizer Produzenten wollen aber das Schweizer Kreuz für «Swiss made» auf ihrem Produkt und setzen deshalb auf einheimische Produkte. Durch den Grenzschutz (ein Zuschlag von 70 CHF auf eine Tonne Zucker) sind jedoch Importe nicht deutlich günstiger als hiesiger Zucker. Die EU verteuert die Tonne mit einem Zoll von 419 Euro.
EU-Massnahme drückt Preis
Die EU hatte 2017 die Produktionsquoten für Zucker abgeschafft. In der Folge stieg das Angebot, und der Zuckerpreis in der Schweiz sank um 30%. Die Interessenvertreter der Zuckerindustrie haben deshalb die Parlamentarische Initiative «Stopp dem ruinösen Preisdumping beim Zucker» lanciert. Die Pandemie hat gemäss Zuckerindustrie eindrücklich aufgezeigt, wie stark unser Land von einer einheimischen Produktion von Grundnahrungsmitteln abhängig sei bzw. profitiere. Den derzeitigen Selbstversorgungsgrad von 70% gelte es unbedingt zu erhalten. Eine in Auftrag gegebene Studie zeigt zudem, dass Schweizer Zucker rund 30% nachhaltiger angebaut und produziert wird als Importzucker.
Gemäss Initianten gelte es die Rentabilität der inländischen Zucker- und Zuckerrübenproduktion sicherzustellen. Dafür müsse der Mechanismus für die Festlegung der Zollansätze für importierten Zucker so angepasst werden, dass für Zucker ein Mindestpreis garantiert sei. Die Schweizer Marktordnung für Zucker wird so ausgelegt, dass die Zucker verarbeitende Industrie Importzucker in etwa zu EU-Konditionen beschaffen kann. Dazu wird monatlich die Differenz zwischen Weltmarktpreis und europäischem Zuckerpreis erhoben und als Grenzschutz für Zuckerimporte in die Schweiz festgelegt. Im Handel zwischen der EU und der Schweiz sind Preisausgleichsmassnahmen (bewegliche Teilbeträge) auf in landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen enthaltenen Zucker aber nicht erlaubt. Der im Quervergleich tiefe Grenzschutz für Zucker wird mit den hohen spezifischen Zahlungen pro Hektar Zuckerrüben (Einzelkulturbeitrag) ausgeglichen.
Die vorgeschlagene Lösung ist auch für die nachgelagerte Verarbeitungsstufe finanziell gut verträglich, was gemäss Initianten am Beispiel einer Tafel Milchschokolade erläutert werden kann. Eine solche Tafel à 100 Gramm enthält 45% Zucker. Bei einem Zuckerpreis von 60 CHF pro 100 kg entspricht dies 2,7 Rappen. Wenn nun der Mindestgrenzschutz von 7 CHF pro 100 kg dazukommt, ergeben sich Mehrkosten von 0,3 Rappen auf den Verkaufspreis einer Tafel.
Süsser Ersatz gesucht
Auf die Süsse in Lebensmitteln wollen die Konsumenten hingegen nicht verzichten, deshalb arbeitet die Lebensmittelindustrie an Ersatzstoffen. Wenn es um Zuckerersatzstoffe geht, denken viele hiesige Investoren an das kleine Schweizer Biotech-Unternehmen Evolva, das an der Schweizer Börse SIX kotiert ist. Vor einigen Jahren machte das Unternehmen mit dem Stevia-basierten Süsstoff Eversweet Schlagzeilen. Nach einer Kooperation mit dem US-Agrarkonzern Cargill schien das Potenzial fast unbegrenzt. Die Rede war auch von einem grünen Coca-Cola, das auf diesem Süssstoff basierte. Doch das kam nicht, und es ist ruhig geworden um Eversweet.
Evolva hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Restrukturierungen und «Neustarts» erlebt. Vor einem Jahr übernahm ein neuer CEO und stellte das Unternehmen nochmals auf den Kopf. «Eversweet hat in der eigenen Produktpipeline nicht mehr erste Priorität», sagt die Unternehmenssprecherin. Der Süsstoff wurde an ein Joint-Venture von Cargill und der niederländischen DSM auslizenziert. Aber auch hier kommt es zu Verzögerungen. Die Analysten des Brokers Octavian rechnen für das Jahr 2027 mit einem Umsatz von 100 Mio. USD für Eversweet, wovon dann 5% an Evolva gehen würde.
Andere Prioritäten
Der Markt für kalorienfreien Zuckerersatz verfügt über viel Potenzial, ist aber hart umkämpft. Evolva hat sich – zumindest mittelfristig – andere Prioritäten gesetzt und forciert den Absatz und die Entwicklung anderer Produkte: Etwa von Resveratrol, einer Rotwein-Substanz, der lebensverlängernde Wirkung attestiert wird, dem Aromastoff Vanillin und Nootkatone, den Geruchsstoff der Grapefruit, der auch als natürliches Insektizid u. a. gegen Zecken und Mücken eingesetzt wird.
Das Unternehmen aus Reinach gewinnt diese Substanzen durch Fermentation in Bio-Reaktoren und umgeht so den «Flaschenhals der Natur». Die neuste Substanz ist L-Ararbinose, ein Zuckerblocker für Lebensmittel und Getränke. Erste Einnahmen zu diesem Produkt dürften für das zweite Halbjahr 2022 im März augewiesen werden. Das Biotech-Unternehmen vertreibt keine eigenen Konsumprodukte, sondern beliefert Lebensmittel- und Riechstoffproduzenten.