Macro Perspective: Die Vivisektion Europas – Archetypen und Paradoxien

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„Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, wenige in Bezug auf das Ziel.“ Friedrich Nietzsche

Griechenland ist in aller Leute Munde! Und was dabei vor allem zum Ausdruck kommt, ist die fortgesetzte Desintegration Europas. Es ist den EU-Politikern nicht gelungen, den Balkan zu europäisieren, woraus jetzt die Balkanisierung Europas folgt – scheinbar eine Endlosschleife neuzeitlicher Geschichte.

Vorgeschichte

Die 19 Staaten der Eurozone (hellblau). Bild: www.ecb.europa.ch
Die 19 Staaten der Eurozone (hellblau). Bild: www.ecb.europa.ch

Als in der zweiten Hälfte der 90er Jahre die zunächst visionär scheinende Gemeinschaftswährung Euro auf den Weg gebracht wurde, verstummten die Kritiker schnell, weil der politische Wille hinter dem Projekt determiniert war. Durch dauerhafte Wiederholung des Europa-Mantras wurden Bedenken zerstreut, durch das Einspannen von Wirtschaftsprofessoren und -verbänden die ökonomische Sinnhaftigkeit zu untermauern versucht. Seinerzeit wollte niemand nüchterne Analysen zu den langfristigen Auswirkungen hören, weil man sich darauf geeinigt hatte, die Währungsunion als beispiellos kühne Tat durch kritiklose Medien zelebrieren zu lassen, keiner wollte sich das Europa-Party-Gefühl von Miesmachern verderben lassen. Genau dieses Party-Gefühl wollten auch die Griechen, als sie 2002 dem Euro-Raum beitraten. Der damals mit der Prüfung der Griechenland-Zahlen beauftragte Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, erinnert sich später, dass der Euro-Beitritt Griechenlands nicht erfolgte, weil die Kriterien zweifelsfrei erfüllt worden seien, sondern wegen dem politischen Willen.

Europa und der Euro – warum es so kommen musste

Bereits in den 90er Jahren hat eine ernsthafte Analyse historisch-relevanter Währungsunionen zumindest zwei offensichtliche Ergebnisse bringen müssen: die US-amerikanische nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 sowie die italienische nach der Formung des Nationalstaates in den 1860er Jahren. In beiden Fällen gab es ein Nord-Süd Gefälle. In den USA hatte der 1861 begonnene Bürgerkrieg im Norden eine rasche Industrialisierung, insbesondere in der Waffentechnik, ausgelöst. Die ersten seriengefertigten zuverlässigen Repetiergewehre und Revolver, Panzerschiffe, U-Boote. Die völlig inflationierten Confederated Dollar des Südens verschwanden, der Yankee Dollar kam. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der agrarischen Südstaaten wurde durch die harte Währung bis heute, also 150 Jahre später, zementiert. In Italien liegen die wohlhabenden Städte wie Florenz, Venedig, Mailand, Genua und Turin im Norden. Die sukzessive Einheit mit Sardinien, Sizilien, Apulien etc. hat das Nord-Süd-Gefälle über die letzten 150 Jahre ebenfalls zementiert und konnte nicht einmal mit den erheblichen EU-Fördermitteln während der letzten 50 Jahre überwunden werden. Bekanntermaßen gibt es im Norden Italiens starke politische Kräfte, die eine Loslösung von Rest-Italien wollen.

Euro-Asymmetrien

Was gut für den Norden der USA und den Norden Italiens war und ist, ist auch gut für den Industriekomplex in Europa. Und schlecht für den Rest. Was schon vor der Währungsunion offensichtlich war, hat sich durch die seitdem betriebene Wirtschafts- und Währungspolitik nur noch weiter verstärkt – nachdem die Europa-Party ausgeklungen war und sich dann ab 2008 Kater und Kopfschmerzen zeigten. Deutschland hat die Exportquote von 25% des GDP auf inzwischen 50% gesteigert. In Frankreich hat demgegenüber eine beispiellose De-Industrialisierung eingesetzt. War der Euro über weite Strecken seiner Existenz für die Länder des ehemaligen DM-Blocks (Deutschland, Österreich, Niederlande) zu schwach und waren die Euro-Zinsen zu hoch, so galt für die weniger wettbewerbsfähigen Länder genau das Gegenteil. Die aus südeuropäischer Sicht niedrigen Zinssätze und die feste Währung leiteten eine staatliche Ausgabenorgie ein, der Beamtenapparat wurde weiter aufgebläht, unwirtschaftliche Großprojekte wurden realisiert, und ein Konsumrausch der Verbraucher vollendete die Europa-Party dann richtig mit einem Knall. Als 2007/08 die Finanzmärkte erstmals gegen die exorbitanten Schuldenquoten der Südeuropäer rebellierten, war die Party vorbei!

Akt I. Deutschland und Frankreich brechen Maastricht-Kriterien

Im Gefolge der scharfen Rezession nach 2001 erlaubten sich die beiden größten Volkswirtschaften des Euro-Raumes Deutschland und Frankreich wechselseitig den Bruch der in Stein gemeißelten Maastricht-Kriterien – Staatsverschuldung von max. 60% des BIP und jährliches Haushaltsdefizit von max. 3% des BIP. Zwar gab es in der gegebenen Situation sehr gute Gründe hierfür, doch die vor allem von Deutschland stets eingeforderte Disziplin war damit um ihre Glaubwürdigkeit gebracht. Während jedoch in Deutschland und den ehemaligen DM-Block-Ländern verstärkt Reformen durchgeführt und in Produktivitätssteigerungen investiert wurde, haben die Länder Südeuropas dies weitgehend versäumt. Die Frage ist, inwieweit war beispielsweise Spanien bis 2008 selbst Herr der Lage, als Bauinvestitionen in ungesundem Ausmaß Hauptträger des Wirtschaftswachstums waren. Zu niedrige Zinsen, zu großzügige Kreditvergabe, Fehlanreize durch EU-Ausgleichsprogramme. Die Party musste weitergehen, die Politiker wollten wiedergewählt werden.

Akt II. Griechenland trickst sich unbemerkt in den Euro

Um an der Party teilzunehmen, streckt und windet sich Griechenland nach der Jahrtausendwende im Bestreben, die Kriterien für den Beitritt zum Euro-Raum zu erfüllen. Wie wir heute wissen, hat Goldman Sachs kreative Konstrukte entwickelt, um etliche Milliarden Verbindlichkeiten verschwinden zu lassen. Die EuroStat-Zahlen, die die EZB prüfte, wirkten zwar auf Issing merkwürdig, aber es gab nach seiner Aussage auch keinen triftigen Grund, diese anzuzweifeln. Es war am Ende eine politische Entscheidung. Weder Goldman Sachs noch die griechischen Politiker der Zeit noch die auf EU-Ebene Verantwortlichen wie der damalige deutsche Finanzminister Eichel wurden jemals zur Rechenschaft gezogen. Tatsächlich haben Ex-Goldmänner zwischenzeitlich zahlreiche Schlüsselpositionen eingenommen, wie etwa EZB-Chef Draghi. Doch der Austausch ist bi-direktional, der frühere Bundesbanker Issing ist seit 2007 Advisor von Goldman Sachs.

Akt III. Osterweiterung zerstört europäische Kohäsion

Wie sich gezeigt hat, sind EU und NATO am Ende doch sehr eng verbunden. Polen, die Balten, die Balkanstaaten wollen nicht nur den Wohlstand Europas, sondern auch einen militärischen Schutzschirm, insbesondere seit die Amerikaner verstärkt und polarisierend in die Gestaltung der Region eingreifen. Damit geht jedoch eine Politisierung und Militarisierung der europäischen Wirtschaftsunion einher – zuviel Ost-West-Spannung zusätzlich zum Nord-Süd-Gefälle, wie es sich nicht zuletzt in der Griechenlandkrise zeigt. Die Ziele der russophoben Polen und Balten sind nicht kompatibel mit denen von Frankreich und Italien, immerhin Gründungsmitglieder der aus sechs Ländern bestehenden Vorläuferorganisation EWU. Es fällt auf, dass die größten Kriegstreiber im Osten der EU auch diejenigen sind, die Griechenland mehr noch als Schäuble demütigen wollen. Europa verliert in beängstigendem Tempo an sozialer und kultureller Kohäsion und zerfällt in Partikularinteressen, eine gemeinsame Linie in Einklang mit den Gründungsprinzipien ist kaum noch zu erkennen.

Rückkehr der Archetypen

Erschreckend sind die vielfachen verbalen Entgleisungen vieler europäischer Politiker mit Blick auf Griechenland bzw. was die verordnete Austeritäts- und Aderlasspolitik angerichtet hat. Zuletzt haben sich u.a. die Amerikaner recht deutlich zu Wort gemeldet und die Europäer ultimativ aufgefordert, eine Lösung herbeizuführen. Der IWF, Teil der Troika, hat eher kleinlaut eingeräumt, dass die bisher als Basisszenario berechneten Zahlen überholt seien. Das hatte Varoufakis zuvor vergeblich zu vermitteln versucht. Ihm fiel die Rolle dessen zu, der die schlechten Nachrichten überbringt und entgegen Sophokles Aufforderung in Antigone: „Töte nicht den Boten …“ von den EU-Technokraten in vor-demokratischer tumber Verhaltensweise zumindest symbolisch ausgelöscht werden musste. Aber was hätte man vom Kohl-Enkel und Law and Order Innenminister Schäuble auch anderes erwarten können? Er führt das Finanzministerium wie eine Polizeibehörde. Für Planabweichungen ist da kein Raum. Insbesondere verstehen aber er und die meisten seiner Finanzministerkollegen nichts von Wirtschaftsgeschichte, Kreditzyklen und Krisenprävention und -bewältigung. Er weist zwar bei jeder Gelegenheit auf seinen Freund Tim (Geithner, Ex-Chef der NY Fed und Ex-Finanzminister) oder seinen Freund Jack Lew (aktueller Finanzminister) hin, doch davon kommt noch kein Sachverstand. Letzterer fand es gar nicht spaßig, als ihm Schäuble am Gipfel der jüngsten Griechenlandkrise, wie der Herr Europas, anbot, Griechenland gegen das ebenfalls von der Insolvenz bedrohte Puerto Rico (72 Mrd. US-$) im Euro-Raum zu tauschen.

Die Finnen drohten zuletzt, den Euro zu verlassen. Frankreich und Italien haben sich jetzt zumindest insoweit durchgesetzt, als dass Griechenland im Euro verbleibt, entgegen Schäubles unverhohlener „Grexit auf Zeit“ Indiskretion einen Tag vor der Lösung. Spaniens Premier Rajoy hat die Gesetze verschärft, um einen Podemos Wahlsieg im November schwieriger zu machen; bezüglich Griechenland ist er Hardliner. Mit Blick auf die über Europa hereinbrechende Flüchtlingskatastrophe sagte Renzi an die Adresse der kalten Krieger im Osten, dass sie es nicht verdienen, Europäer genannt zu werden. Die Briten haben schon Distanz und werden diese wohl weiter ausbauen. Ungarn baut einen Zaun an der Grenze zum EU-Aspiranten Serbien, und erweckt damit jahrhundertealte Ressentiments zu neuem Leben. Einen weiteren symbolischen und völlig sinnlosen Zaun baut die Ukraine entlang der russischen Grenze, mit 200 Mio. EU-Steuermitteln! Moldawien sucht neuerdings den fast-track EU-Beitritt durch Anschluß an Rumänien. Und obwohl Serbien und Albanien wohl einhundert Jahre von der EU-Reife entfernt sind, hat Kanzlerin Merkel, ganz weltpolitisch, einen beschleunigten Beitritt in Aussicht gestellt.

Reality Check: Europäische Zielsetzungen

Die politisch gewollte Währungsunion hat wegen dem mangelnden finanzökonomischen Sachverstand eine Weichenstellung vorgenommen, die die Statik des europäischen Hauses sukzessive zerstört hat. Jetzt droht der Zusammenbruch der EU, wie zahlreiche Ökonomen warnen. Anstatt weiter nationale Egoismen zugunsten des Hauses Europa zu überwinden, hat das Euro-Zwangskorsett zu Beklemmung, Atemnot und zutiefst irrationalen Verhaltensweisen geführt und, darüber hinaus, tiefe Gräben zwischen Nord und Süd, Ost und West aufgerissen.

Die Schweiz – Insel der Glückseligen?

Na und, könnte man sagen, was geht das die Schweiz an? Indirekt sehr viel. Und auf der Devisenseite auch sehr direkt. Eine EU im multiplen Stress – Griechenland, Ukraine, Wachstumsschwäche, Sezessionsbestrebungen, Wahlen in Spanien, eine Bankpleite in Österreich, der Flüchtlingsstrom, etc. – , das muss das von der EU wie einem Ozean umspülte Eiland Schweiz betreffen. Das Chaos in der EU kann nur zu weiterem Aufwärtsdruck auf den Franken führen. Wo im gegebenen Szenario die Schmerzgrenze liegen wird und was dagegen getan werden kann, das wird erst die Zukunft zeigen. Die Gefahren steigen jedenfalls, zumal mangels Bankgeheimnis und angesichts der Veränderungen im geopolitischen Klima auch tendenziell weniger Russen, Araber, Chinesen kommen werden.

Auch wenn für den Moment mit dem dritten Hilfspaket die Griechenland-Krise erst einmal entschärft ist, die Asymmetrien und Belastungen werden sich weiter zuspitzen, da ausgleichende und entlastende Faktoren selbst mit dem Fernrohr nicht erkennbar sind. Die Grabenkämpfe und Interessendivergenzen innerhalb und um die EU werden sich daher in einem weiterhin von Ressentiments und Demagogie geprägten Konflikt äußern. Was wir zu hören bekommen, entspricht in ernüchternder Weise Nietzsches Erkenntnis: „Was in den Vätern schweigt, wird in den Söhnen sprechen.“

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