Die Nestlé-Aktie war auf schweizeraktienaktien.net seit 2017 wiederholt als antizyklisches und dividendenstarkes Investment empfohlen worden. Seitdem ist Nestlé in der Spitze um über 50% gestiegen. Zeit für eine Zwischenbilanz und einen Blick auf die weiteren Perspektiven. Die hängen nicht zuletzt davon ab, ob es dem Unternehmenskoloss Nestlé gelingen kann, wieder nachhaltig höhere Wachstumsraten zu erzielen. Den Hebel dazu bieten gesunde und nachhaltige Produkte.
Der Konzernumbau besteht bei einem so weitverzweigten Unternehmen aus vielen kleinen Schritten. Doch was für Nestlé „relativ“ klein ist, kann für andere ein grosser Happen sein. Die Einzelmassnahmen ergeben jedoch zusammengenommen ein Muster, das im Einklang mit den formulierten Zielsetzungen steht. Zuletzt wurde nun der Verkauf von Nestlé Skin Care, also der Hautpflegesparte, für 10.2 Mrd. CHF an ein Konsortium von Finanzinvestoren gemeldet: die Abu Dhabi Investment Authority sowie die schwedische Beteiligungsgesellschaft EQT, die vor kurzem ihr IPO an der Börse Stockholm erfolgreich durchgeführt hat.
Verkauf von Aktivitäten
Die Hautpflegeaktivitäten waren 1981 in Lausanne als Joint Venture mit L’Oréal gegründet worden und waren nie Bestandteil des Kerngeschäfts. Inzwischen sind die Wachstumsraten jedoch nur noch gering, und die Gewinnmargen stehen dank dem verschärften Wettbewerb auch unter Druck. Es ist nur konsequent, wenn Nestlé sich von gewinnschwachen Randaktivitäten trennt.
Das gilt auch für den Fleischverarbeiter Herta, eine Tochtergesellschaft in Deutschland und einst die grösste Fleischfabrik des Landes. Am Jahresbeginn sagte Nestlé, dass Würste zukünftig nicht mehr verkauft werden sollen. Obwohl Rothschild mit der Findung von Käufern für die diversen Ländergesellschaften beauftragt ist, kam bislang noch keine Erfolgsmeldung. Es geht um ca. 600 Mio. CHF Jahresumsatz und einen potenziellen Verkaufsertrag von 500 Mio. CHF. Es scheint aber wenig Interesse zu geben, oder die Preisvorstellungen liegen zu weit auseinander. Nestlé will sich von Wurst- und Fleisch-Aktivitäten trennen, weil es ein margenschwaches und schrumpfendes Geschäft ist. Es passt auch nicht zu der Ambition, ein Anbieter von gesunden Nahrungsmitteln zu sein.
Zukäufe setzen neue Akzente
Dazu passen aber viele der Akquisitionen der jüngeren Vergangenheit, denn Nestlé will sich zum Anbieter von Wellness- und Gesundheitsprodukten wandeln. Zuletzt wurde das US-Unternehmen Persona zugekauft, ein Hersteller von personalisierten Gesundheitsprodukten. Davor investierte Nestlé in Before Brands, einen Spezialisten für die Verhinderung von Allergien im Bereich Säuglings- und Kleinkindernahrung. Weitere Expansionsschritte betreffen ernährungsbasierte Lösungen für Ageing, Verdauungsprobleme, Adipositas oder die Gehirnleistung. Noch kommen die beiden umsatzstärksten Produkte von Nestlé Health – der Protein-Shake Boost und die Marke Meritene gegen Müdigkeit – auf gerade eine halbe Mrd. CHF Jahresumsatz. Das erscheint wenig im Verhältnis zu den 93 Mrd. CHF Konzernumsatz, doch in wenigen Jahren sollen die Gesundheitsprodukte einen zweistelligen Milliardenbetrag beisteuern. Während es bisher scheinbar um nicht regulierte Bereiche der Ernährung geht, hat Nestlé auch den Gesundheitsmarkt im engeren Sinn im Visier. Die Zulassungsbehörde FDA hat Nestlé grünes Licht für klinische Studien gegeben, deren Ziel die Behandlung von Crohn’s Disease sowie Colitis ist.
Gewinn vor Umsatz
Dabei geht es darum, an den höheren Wachstumsraten im Bereich Gesundheit + Ernährung zu partizipieren. Denn nach und nach war Nestlé schon aufgrund der schieren Grösse an Wachstumsgrenzen gestossen, die Wachstumsraten beim Umsatz waren in den niedrigen einstelligen Prozentbereich abgeglitten. Doch die Gewinnmarge blieb intakt.
Nur Markenunternehmen mit Marktmacht wie Nestlé können konzernweite Nettogewinnmargen von 10,4% durchsetzen. Die Neupositionierung zielt nun darauf ab, höhere Wachstumsraten und Gewinnmargen zu erzielen, wie sie in Teilbereichen des Gesundheitsmarktes durchaus üblich sind. Diese Strategie beinhaltet andererseits die Trennung von margenschwachen Massenmärkten.
Neue Prioritäten
Der Konzernumbau schreitet voran, auch wenn in Nestlé-Tradition nicht so viel Aufhebens davon gemacht wird. Wie weit der CEO dabei gehen wird, bleibt abzuwarten, denn der Prozess könnte noch Jahre in Anspruch nehmen. Denkbar ist sogar, dass am Ende der Reorganisation ein nach Umsatz deutlich verkleinertes Unternehmen steht, das dafür deutlich höhere Margen erzielt und viele Milliarden Franken überschüssiger Liquidität an die Aktionäre zurückfliessen lässt. Das neue Aktien-Rückkaufprogramm über 20 Mrd. CHF weist bereits in diese Richtung.
Gründe für Nestlé bei Kursen unter 80 CHF
Bei den verschiedenen Aktien-Empfehlungen seit 2017 stand die relative Attraktivität von Nestlé bei geringem Risiko im Vordergrund. Die absehbar steigerbare Dividendenrendite lag 2017 bei 3,4%. Zudem war zu erwarten, dass die defensiven Qualitäten der Aktie angesichts heisslaufender zyklischer Aktien bald für Investoren an Bedeutung gewinnen würden. Dass sich weiterhin mit Dan Loeb ein aktivistischer Investor mit Vision eingekauft hat, war ein Symptom dafür, dass institutionelle Anleger auf die Story vom „Make-up“ durch den neuen CEO einsteigen würden.
Defensive vs. zyklische Aktien
Inzwischen haben Aktien aus konjunkturreagiblen Industrien wohl ihr vorläufiges Hoch gesehen, doch defensive Titel haben, so weit, nur ihren ersten Schritt hinter sich. Nahrungsmittel-, Pharma-, Kosmetik-Aktien usw. beginnen bereits in der Spätphase des Konjunkturzyklus mit der Outperformance vs. zyklische Industrien – und setzen diese in der Rezession fort. Abgesänge, wie verschiedentlich in der Börsenboulevardpresse zu finden, sind noch verfrüht. Nestlé, Novartis & Co. werden weiterhin outperformen. Das kann im negativen Extremfall allerdings auch nur bedeuten, dass die Aktien weniger stark fallen als zyklische Titel. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie weiter zulegen, weil sie aufgrund der hohen Stabilität der Gewinne relativ sichere Dividendenzahler sind, was bei zyklischen Unternehmen nicht der Fall ist. Nestlé ist mit einer Ausschüttungssumme von 7.3 Mrd. CHF für 2018 der mit Abstand grösste in der Schweiz – und auch weltweit in der Spitzengruppe!
Bewertung und Wachstumsraten
Das KGV ist nun auf Basis des Jahres 2018 bei 27 und kann durchaus noch auf über 30 steigen. Unterstellt man weitere Gewinnsteigerungen von 5% bis 10% für 2019 und 2020, so relativiert sich auch das KGV. Die Kernfrage aber ist, ob und wie es Nestlé gelingen kann, eine dauerhaft höhere Bewertung zu erlangen – als Marktführer im wachstums- und gewinnstarken Markt für gesunde und nachhaltige Ernährung.
Ein solcher Marktführer kann trotz der Unternehmensgrösse auf längere Sicht jährliche Wachstumsraten von mehr als 10% erzielen, noch höhere Gewinnwachstumsraten erreichen und deshalb eine deutlich höhere Bewertung an der Börse zugestanden bekommen als ein langweiliger Nahrungsmittelkonzern, wie Nestlé besonders in Anlegerpublikationen noch immer oft bezeichnet wird.
So weit, so gut. Doch wie glaubhaft, nachhaltig und konsequent ist die Neuausrichtung unter den veränderten Bedingungen? Denn es muss auffallen, dass Nestlé seine nicht ganz saubere Weste, die von etlichen Skandalen verursacht wurde, nun verstärkt weiss und grün einfärbt. Positiv ist jedenfalls zu werten, dass die Initiativen zur Nachhaltigkeit durchaus glaubhaft sind, etwa bei den Verpackungen.
Sustainability Leaders and Sinners
Da immer mehr institutionelle Investoren nach ESG-Kriterien investieren, können es sich insbesondere Markenhersteller im Konsumbereich nicht leisten, auf die Schwarze Liste der ESG-Sünder zu gelangen. Denn das würde den Abbau der Beteiligung und damit sinkende Kurse bedeuten. Für Nestlé stellt die wachsende Bedeutung der ESG-orientierten Investmentverhaltens gleichermassen Chance und Risiko dar.
Wenn es gelingt, ein wirklicher nachhaltiger Innovationsführer in der Industrie zu werden und durch eine gelungene Reorganisation mehr Wachstum und steigende Gewinne in den neuen Kernbereichen zu erzielen, ist auch eine dauerhaft höhere Bewertung angemessen. Doch der Weg dahin ist noch weit, und sollte eine einbrechende Weltkonjunktur eine Börsenkorrektur auslösen, bevor Nestlé den Wandel sichtlich vollzogen hat, droht die Anpassung der Gewinnmultiples an den Aktienbörsen auch Nestlé zu erfassen.
Viele Schwachpunkte
Einstweilen zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass viele Meilensteine noch nicht erreicht sind. Aktuell steht die Baby-Milch von Nestlé und anderen Herstellern in der Kritik, da krebserregende Stoffe enthalten sein sollen. Vor kurzem meldete Nestlé selbst, dass die Ziele beim Stoppen der Deforestation nicht erreicht wurden. Ob Praktiken wie die Entnahme von zu viel Wasser aus Flüssen und Quellen, mit denen Nestlé immer wieder negativ in die Schlagzeilen gerät, mit dem angestrebten Image des Sustainability Champions vereinbar sind, ist zu bezweifeln.
Fazit
Die Nestlé-Aktie bleibt eine starke Halteposition. Für neue Käufe erscheint es jedoch zu spät, auch wenn heute die meisten Banken Kaufempfehlungen für Nestlé aussprechen. Deren überwiegende Nichtempfehlung 2017 und 2018 war ja auch ein Kontra-Indikator. Um eine Bewertungsprämie und ein dauerhaft höheres KGV um die 30 zu verdienen, müsste die nachhaltige Ausrichtung schon glaubwürdiger ausfallen und durch weiter gesteigerte Wachstumsraten untermauert sein.