Macro Perspective: Interventionismus und Fehlallokation

Börsen auf unsicherem Kurs

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1907

„Alle Wissenschaft ist statisch in dem Sinne, dass sie die unveränderlichen Aspekte der Dinge beschreibt.“ Frank Knight, Ökonom, 1885-1972

Die berühmte ökonomische Denkschule in Chicago ist Bestandteil der 1892 vom legendären John D. Rockefeller gegründeten Universität. Bild: wikipedia.org

Die Börsen feiern Rekorde, die Champagnerkorken knallen, und selbst die Primärmärkte kommen mit anstehenden Mega-Emissionen wie Ant Financial und Airbnb wieder in Fahrt. Jede Nachricht ist eine gute Nachricht, so könnte man meinen: Impfstoff-Hoffnungen, rekordhohe M&A-Transaktionen, die Versicherungen der Notenbanken, dass die Zinsen noch lange tief blieben, die bevorstehenden US-Wahlen oder Signale für eine herbeigesehnte De-Eskalierung zwischen China und den USA. Dabei zeigt die liquiditätsgetriebene Entwicklung der Börsen aber, dass tatsächlich die Kurs- und Preisveränderungen an den Börsen die Stories dazu nach sich ziehen, und nicht etwa die Stories die Kurse machen.

Die tatsächliche Information liegt in einem „vollkommenen Markt“ in den Preisveränderungen, so sagt die Schule der Ökonomen in Chicago schon lange. Produzenten werden ihre Mengen den Preisen anpassen, um so den angestrebten Profit zu erzielen. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. So weit, so gut. Doch die Denkschule der 1892 vom legendären John D. Rockefeller gegründeten Universität war trotz aller Vielfalt der Lehrmeinungen stets auf die Marktwirtschaft ausgerichtet und generell gegen staatliche Planung und Interventionismus. Dies vor allem, weil alle -ismen wie Sozialismus, aber auch Kapitalismus, zu ineffizienten Märkten führen, die wiederum zu einem Verlust von Dynamik, Investitionen, Beschäftigung und Wachstum führen. Die private Komponente steht im Vordergrund. Rationale Argumente entscheiden bei Unternehmen und Privathaushalten über Ausgaben, Investitionen und Verhalten. Dem Staat als Wirtschaftsakteur war stets zu misstrauen. Milton Friedman, Nobelpreisträger und einer der herausragenden Ökonomen Chicagos, fasste es 1974 so zusammen: „In der wirtschaftspolitischen Diskussion meint ‚Chicago‘ die Überzeugung von der Effizienz freier Märkte im Hinblick auf Ressourcenallokation, Skepsis gegenüber Staatseingriffen in die Wirtschaft und die Betonung der Quantitätstheorie des Geldes für die Inflation.“

Interventionismus vs. Marktwirtschaft

Doch ist das heute überhaupt noch so? 30 Jahre nach dem Ende der zentralisierten Planwirtschaft in den Warschauer Pakt-Staaten, nach der Schaffung der Währungsunion und einer überbordenden EU-Bürokratie sowie insbesondere nach quasi normal gewordener unkonventioneller monetärer Politik spätestens seit 2002 entsteht unweigerlich der Eindruck, dass staatliche Lenkungspolitik und auch die flankierende Politik der Notenbanken vor allem eins im Sinn haben – die Konservierung des status quo, und nicht etwa den Wettbewerb. Von freien Märkten, die aus der Summe der Einzelentscheidungen der Wirtschaftssubjekte rational einen Preis für ein Produkt, eine Dienstleistung oder ein Finanzaktivum bilden, sind wir heute doch tatsächlich weiter entfernt als von der zentralistischen Planwirtschaft. Das zeigt sich schon an der Vielzahl von Steuern, Gebühren – sogenannten administrierten Preisen – die jeden Markt verzerren.

Asset Inflation maskiert steigende Risiken

Diese Entwicklung hatte sich bereits vor Ausbruch der Pandemie deutlich manifestiert – auch und vor allem an den Finanzmärkten. Künstlich tiefe Zinsen für eine lange Zeit sowie massive Käufe von Wertpapieren durch die Notenbanken haben ganz offensichtlich zu einer Asset Inflation geführt, die jedoch aus Sicht der Notenbanken nur eine unbeabsichtigte Konsequenz der Stimulierungsprogramme für die Wirtschaft ist. Dabei wird in der Finanzindustrie aber immer noch so getan, als ob die durch Marktmanipulation verzerrten Preise rational begründet und auch berechtigt sind. Doch während der am und vom Markt bestimmte Zins stets die Summe der Risiken reflektiert und diskontiert, steigen gegenwärtig die Zinssätze trotz historisch einmaliger Kontraktion der Wirtschaft und einer bevorstehenden und unvermeidlichen Pleitewelle oder Verschuldungskrise bei Privaten, Unternehmen und Staaten nicht. Die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen ist seit Anfang 2018 von 3,4% auf aktuell 0,97% gefallen. Im März 2020 war die Rendite zwar innerhalb von zwei Wochen von 1% auf 2,5% geschossen, doch die nachfolgende „Marktpflege“ der EZB lässt zwischenzeitlich die durchaus erhöhten Risiken kaum noch erkennen.

Verzögerter Transmissionsmechanismus

Die Insolvenzaussetzungsgesetze und -massnahmen sollten möglichst vielen Unternehmen Zeit verschafft haben, um Anpassungen, Kostensenkungen und Reorganisationen vorzunehmen, doch dauerhaft sind die Unterstützungsmassnahmen nicht finanzierbar und darüber hinaus auch nicht unbedingt mit marktwirtschaftlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Insgesamt erscheint die Lage von eskalierender Staatsverschuldung und einer gewissen Verzweiflung geprägt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, so könnte das Motto lauten.

Zombie-Wirtschaft verzerrt Wettbewerb

Das steht aber im Widerspruch zur Marktwirtschaft und behindert deren Selbstregulierungskräfte. Wenn Rezessionen regelmässig durch überdimensionierte Gegenmassnahmen abgeschwächt werden und selbst Zombie-Unternehmen durch billige Kredite weiter ihr wettbewerbsverzerrendes Dasein fristen können, fällt die „normalerweise“ von den Marktkräften geforderte oder erzwungene Anpassung weitgehend aus. Aber weil diese Marktverhältnisse als „new normal“ bereits so lange akzeptiert sind, findet heutzutage kaum noch ein kritisches Hinterfragen statt.

Die Pferde saufen nicht

Die Scheinrealität der Investoren erfüllt einen Zweck. Der Wohlstandseffekt infolge steigender Kurse an den Wertpapierbörsen und der Hand in Hand gehenden Preissteigerung an den Immobilienmärkten soll Finanzierungsoptionen für neue Investitionen schaffen und so die Wirtschaft beflügeln. Doch in der aktuellen Situation saufen die an die Tränke geführten Pferde eben nicht. Da helfen auch gewaltige zusätzliche Interventionsfazilitäten wie das Pandemic Purchase Program der EZB in Höhe von 750 Mrd. Euro nicht. Die Stabilität im Angesicht der Pandemie erscheint in Weiten vorgegaukelt.

Parallelen zur Katastrophen-Hausse

Das Börsengeschehen erscheint vor diesem Hintergrund bei einer distanzierten Betrachtung wie eine gigantische Fehlallokation von Kapital. Tatsächlich erinnert manches an die legendären 1920er Jahre, auch bekannt als die „Goldenen 20er“ oder „Roaring 20s“. Auch damals war die Stimmung bei den Spitzen der Gesellschaft ausgelassen, Der Weltuntergang durch den ersten Weltkrieg und die Pandemie der „Spanischen Grippe“ war ausgeblieben. Es konnte nur noch besser kommen, die Kurse stiegen, extravagante Parties und exaltierte Mode signalisierten früh die Spekulationsmanie, die erst 1929 ein jähes Ende fand. Seinerzeit wurden durchaus stichhaltige Gründe für hohe Bewertungen angeführt, ebenso wie 1989 in Japan, 1999 an der Nasdaq – oder heute.

Einfluss von Chicago

Um wirklich zu erkennen, warum die in der Dauerkrise verfolgten keynesianischen Konzepte allenfalls zeitweilig funktionieren können und ansonsten die Kredit- und Geldmengenausweitung zu Spekulationsblasen führt, kann es hilfreich sein, die Fundamente der wirtschaftlichen Theorien, mit denen alles begründet wird, genauer zu betrachten. Die Ökonomen der Chicago University gelten als die einflussreichsten überhaupt. Sie hat mehr als doppelt so viele Nobelpreisträger hervorgebracht als Princeton und Yale zusammen. Doch die Vertreter der späteren Generationen sind auch mit der Zeit gegangen und haben sich zum Teil sehr weit von den Grundgedanken und -leitlinien am Beginn des 20. Jahrhunderts entfernt. Ein Beispiel ist der Nobelpreisträger von 2013, Eugene Fama, dem zusammen mit Robert Shiller und Lars Hansen der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde für ihre Arbeiten zur Markteffizienzhypothese. Derzufolge sind alle relevanten Informationen bereits in den Kursen reflektiert, was wiederum eine langfristige Über-Performance einzelner Marktteilnehmer ausschliesst.

Skepsis gegen Planwirtschaft und Politiker

Das ist schon sehr weit entfernt von den Lehren Frank Knights, der von 1928 bis zu seinem Tod 1972 an der Chicago University wirkte und als einer der Väter der Chicagoer Schule gilt. Sein Hauptwirken galt der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, Ethik und Gerechtigkeit sowie Soziologie. Er war skeptisch gegenüber allen Lehrmeinungen und Dogmen, wie bei Religionen, aber auch in den Wirtschaftswissenschaften. Insbesondere misstraute Knight jedoch Politikern, deren Machtausübung immer den Eigeninteressen dient. Für ihn war die Marktwirtschaft in einem demokratischen System gegenüber zentraler Planung und bei den politischen Entscheidungsträgern konzentrierter Macht lediglich das geringere Übel. Er bezweifelte auch den Nutzen der quantitativen Forschung und damit die fortschreitende Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften, denn es sei nicht eine exakte Wissenschaft wie die Naturwissenschaften, sondern eher der Soziologie verwandt.

Grenzen des sinnvoll Messbaren

Tatsächlich ist die Aussagekraft beispielsweise des Beta wenig nützlich für Investoren, da der Wert in trügerischer Sicherheit wiegen kann, bevor es plötzlich und unerwartet zur Implosion kommt, wie kürzlich bei Wirecard oder Anfang der 90er Jahre bei Big Blue IBM, die sich völlig unerwartet viertelte. Doch die Finanzwirtschaft lebt von Formeln, Ratios, Bewertungsmodellen. Es hat sich schon früh gezeigt, dass Investment-Theorien immer nur solange funktionieren, wie sie nur von einer Minderheit angewandt werden. Das Parade-Beispiel ist die Dow Theory, die anfangs bestens funktionierte, als sie jedoch Gemeingut geworden war, funktionierte sie immer weniger. Die Theorien der Ökonomen basieren im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr auf Daten und inzwischen auf Big Data. Knights Schüler Kelvin sagte: „Wenn man nicht messen kann, sind die Ergebnisse mager und unbefriedigend.“ Knights Antwort: „Das heisst in der Praxis, wenn es nichts zu messen gibt, misst man eben irgendwie“.

Big Data und falsche Entscheidungen

Genau diesen Eindruck muss man gewinnen, sieht man die Obsession rund um die Daten und deren Analyse. Doch deren Aussagekraft erscheint oft fragwürdig, teilweise unbegründet und oft ohne jede Entscheidungsrelevanz. Tatsächlich kreieren die Algorithmen eigene digitale Scheinwelten, etwa wenn mehr als die Hälfte vieler Populationen sich nur über Facebook oder wechat informieren oder vielmehr indoktrinieren lassen. Aus der heute generierten Datenfülle lassen sich viele irrationale Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte erklären. Unternehmer, die als Zulieferer voll auf die Automobilindustrie gesetzt haben und nun mit der Krise des Verbrennungsmotors überfordert sind oder solche, die ihre Produktion in den Balkan, nach Russland, Brasilien oder China verlagert haben und sich nun dort in einer sozio-politischen Situation wiederfinden, welche ihre extensiven Datenanalysen Lügen straft und sich oft genug als existenzbedrohend erweist. Der gesunde Menschenverstand und die historische Analyse hätten ihnen sagen können, dass der Mangel an demokratischen Werten eher früher als später zu Schwierigkeiten, Problemen und Verwerfungen führen wird. Die ökonomischen Theorien und Datenreihen am Ende der Globalisierungswelle liessen eben jeden dumm aussehen, der nicht seinen Vorteil aus den niedrigen Lohnkosten, den mangelhaften Umweltstandards und der scheinbaren sozialen Stabilität zu ziehen bereit war.

Scheinrealitäten an den Börsen

Und nicht anders verhält es sich an den Börsen. Die Datenfülle erschafft ihr eigenes Anlage-Universum durch Themen-ETFs oder sonstige zunehmend spezifizierte Investment-Produkte. Das führt dann regelmässig zu Spekulationsblasen wie in der Krypto-Welt, bei FANG+-Aktien, Tesla, … ein regelrechtes Anlagefieber entwickelt sich um die jeweils bevorzugten Themen und lässt es selbst für Schüler einfach erscheinen, mit Amazon, Tesla und anderen Lieblingsaktien schnell reich zu werden. Fehlallokation von Anlagekapital ist das übergeordnete Thema. Es betrifft aber nicht nur Einzelwerte, sondern aufgrund der vorherrschenden „passiven“ Investments in Indexprodukte das ganze Anlage-Universum. Die Index-Gewichtung der FANG+-Aktien hat mit deren Anstieg zugenommen. Das System bringt seine eigenen Monster hervor. Dass deren monopolartige Stellung zum Nachteil von Wettbewerb und Konsumenten ist und schon aufgrund der verschärften Datenschutzgesetze starker Gegenwind aufkommt, wird noch ignoriert.

Gegenwind und Trotzreaktion

Die Pandemie hat die Schwachstellen im System blossgelegt. Überkapazitäten, Abhängigkeiten, mangelnde Autarkie und Diversifikation sowie schwache Bilanzen lösen nun nacheinander schwere Krisen aus, was der Kapitalmarkt nicht dauerhaft ignorieren kann. Dazu kommt die soziale Komponente, die in den Modellen gar nicht oder unzureichend berücksichtigt wird. Es ist ja kein Zufall, dass massive und breite Proteste in allen Teilen der Welt gegen diverse Missstände zunehmen, wie zuletzt vielleicht in den 1960er Jahren. Allerdings stehen die Zeichen eher auf Abschottung, Nationalismus, Protektionismus und Populismus, was schlecht für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Klima ist. Bei den Anlegern wird der Hausse-Rausch andauern, bis es letztlich doch zu einem bösen Erwachen kommt.

Einstweilen ist Vorsicht bei gefälligen Wirtschafts- und Investment-Theorien und -Prognosen geboten, denn schon Frank Knight warnt, dass: „… selbst Professoren der Ökonomie, um nichts über die Öffentlichkeit zu sagen, generell keinen wissenschaftlichen Verstand haben.“

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