«Das Wasser ist die Kohle der Zukunft»
Diese Worte liess der französische Autor Jules Verne den fiktiven Ingenieur Cyrus Smith bereits 1874 im Roman «Die geheimnisvolle Insel» sagen. Durch elektrischen Strom zerlegt könnten die Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, die Energieversorgung der Erde sichern. Über 140 Jahre später scheinen nun auch die globalen Wirtschaftsmächte zur selben Erkenntnis wie der Mitbegründer der Science-Fiction-Literatur gekommen zu sein. Immer mehr Länder nehmen Wasserstoff in ihre Energiestrategie auf und sehen es als elementaren Bestandteil einer erfolgreichen Energiewende. Versorgungsketten werden aufgebaut und Produktionskapazitäten für Wasserstoff erhöht. Auch an den Finanzmärkten hat sich die Idee von Wasserstoff als nächstem Megatrend etabliert; es wird von äusserst attraktiven Investitionsmöglichkeiten ausgegangen. In einer zweiteiligen Serie geht schweizeraktien.net auf Wasserstoff als Energiequelle der Zukunft ein und nimmt das Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft unter die Lupe.
Produktion von Wasserstoff zentrale Herausforderung
Wasserstoff ist das häufigste chemische Element im Universum, die Sonne beispielsweise besteht zu 92% aus Wasserstoff. Auf der Erde hingegen kommt das Element nur selten in seiner reinen Form als unvermischtes Gas vor, sondern ist hauptsächlich in Verbindungen wie Wasser oder Erdgasen anzutreffen. Um das Energiepotenzial von Wasserstoff zu nutzen, muss somit in einem ersten Schritt eine solche Verbindung getrennt werden. Heute wird der Grossteil des vor allem in der Industrie zur Stahl-, Ammoniak- und Methanolproduktion genutzten Wasserstoffes aus fossilen Energieträgern gewonnen, was mit dem Ziel der Energiewende vor Augen keine zielführende Lösung sein kann, da dabei ebenso viel Kohlenstoffdioxid freigesetzt wird wie bei deren Verbrennung. Momentan zeichnet die Wasserstoffproduktion weltweit jährlich für den Ausstoss von 830 Mio. Tonnen CO2 verantwortlich, äquivalent zu den Emissionen von Grossbritannien und Indonesien zusammen.
Bleibt somit noch Wasser als Quelle für Wasserstoff. Durch Hinzuführen von elektrischem Strom kann mittels Elektrolyse aus Wasser (H2O) Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O) erzeugt werden. Bei diesem Prozess wird kein CO2 freigesetzt, insofern der verwendete Strom aus grünen Energieträgern erzeugt wurde. Im Rahmen der Klima-Debatte hat sich deshalb auch der Begriff «grüner Wasserstoff» eingebürgert. Vor allem der Wind- und Solarenergie wird aufgrund der stark schwankenden Produktion grosses Potenzial als Primärenergieträger eingeräumt.
Marktvolumen von 12 Bio. USD bis 2050?
Im Juli 2020 hat die Europäische Union mit der Wasserstoff-Strategie bis 2030 erstmals einen Fahrplan für die weitere Entwicklung von grünem Wasserstoff in Europa bekannt gegeben. Bis 2030 will die EU die Installation von 40 GW erneuerbaren Wasserstoff-Elektrolyseuren und die Produktion von bis zu 10 Mio. Tonnen grünem Wasserstoff erreichen. Dazu sollen im nächsten Jahrzehnt bis zu 400 Mrd. EUR investiert werden, 47 Mrd. alleine in Elektrolyseure. Bis 2050 sollen die grünen Wasserstoff-Technologien dann grossflächig im Einsatz stehen. Was grossflächig bedeutet, zeigt eine Schätzung von Analysten von Goldman-Sachs, welche das potenzielle Marktvolumen von grünem Wasserstoff auf 12 Billionen USD bis ins Jahr 2050 beziffern, aufgeteilt auf die USA, Asien und Europa.
Etwas weiter als die EU ist Japan, wo bereits 2017 eine Wasserstoff-Strategie vorgestellt worden war. Nebst der eigenen Produktion – in der Präfektur Fukushima nahm im März die mit 10 MW weltweit grösste grüne Wasserstoff-Produktionsanlage ihren Betrieb auf – setzt Japan auch auf den Import von Wasserstoff. Bis 2030 soll eine wirtschaftliche Versorgungskette aufgebaut werden, unter anderem mittels Transport von flüssigem Wasserstoff auf dem Seeweg. Anfang nächsten Jahres soll zum ersten Mal ein solcher Frachter von Australien nach Japan in See stechen.
Mehrwert der Energiespeicherung
Die Lager- und Transportfähigkeit von Wasserstoff ist denn auch deren grosser Vorteil gegenüber anderen erneuerbaren Energien. Auch diese generieren Strom aus grünen Quellen, sind dabei aber stark abhängig von den externen Variablen Wind, Wetter und Jahreszeit. Bei starken Winden beispielsweise darf ein Windkraftwerk nicht die volle Leistung erbringen, um eine Überlastung der Netze zu verhindern. Die Kraft des Windes verbläst ins Leere. Für eine nachhaltige Energiewirtschaft ist die Nutzung und Speicherung dieser Überkapazitäten unabdingbar. Durch die Integration eines Elektrolyseurs zur Herstellung von Wasserstoff in den Prozess kann die überschüssige Energie direkt zur Aufspaltung von Wasser in seine Elemente genutzt und der so gewonnene Wasserstoff in heute bereits gängigen Behältern aufbewahrt und zum Verbraucher transportiert werden. Die häufig auftretende Diskrepanz bei Solar- und Windkraft zwischen Angebot, extern bestimmt durch Sonne und Wind, und Nachfrage kann so umgangen werden.
Durch diesen Ablauf kann die Wasserstoffproduktion zudem den Strompreisen angepasst werden; bei sinkenden Preisen wird mehr produziert, und somit werden die Produktionskosten reduziert. Die Kostenreduktion ist denn auch eine zentrale Voraussetzung, damit sich Wasserstoff im Markt behaupten kann. Gemäss Angaben der EU-Kommission kostet grüner Wasserstoff aktuell bis zu 5.50 EUR je Kilogramm, grauer aus fossilen Brennstoffen gewonnener hingegen nur 1.50 EUR. Durch den Ausbau von Produktionskapazitäten und die Einführung von CO2-Abgaben dürfte grüner Wasserstoff Schätzungen zufolge ab 2030 preislich mit solchem auf Basis fossiler Energien konkurrieren können.
Doch nicht nur die Preise mindern die Attraktivität der Wasserstoffenergie. Wie bei jeder chemischen Reaktion geht bei der Elektrolyse Energie verloren. In der Literatur wird von einem Wirkungsgrad (Verhältnis von zugeführter zu abgegebener Energie) von je nach Verfahrensweise 67 bis 82% ausgegangen, vereinzelt sollen in Prototypen Werte von bis zu 90% erreicht worden sein. Technologischer Fortschritt und die Ausweitung der Produktionskapazitäten dürften diese Werte weiter erhöhen.
Grüne Stahlindustrie?
Projekte und Visionen zur Umstellung auf Wasserstoff als Energiequelle werden in verschiedensten Wirtschaftsbereichen vorangetrieben. Deutschlands grösster Stahlhersteller Thyssenkrupp experimentiert damit, einen Teil der in den Hochöfen verwendeten Kohle durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. Mittelfristig soll durch ein Verfahren namens Direktreduktion Kohle gänzlich aus Stahlwerken verschwinden. Bei der Direktreduktion umströmt Wasserstoff Eisenerz und löst dessen Sauerstoff heraus. Dadurch entsteht sogenannter Eisenschwamm, welcher in weiteren Schritten zu Rohstahl aufbereitet werden kann. Vorreiter in diesem Bereich ist der schwedische Stahlkonzern SSAB, welcher zusammen mit dem Energieunternehmen Vattenfall und dem Eisenerz-Lieferanten LKAB eine Pilotanlage in Betrieb genommen hat. Ziel ist es, bis 2035 ein grosses, klimaneutrales Stahlwerk mit dieser Technologie aufzubauen. Klimaneutralität in der Stahlindustrie, welche aktuell für 7% des globalen CO2-Ausstosses verantwortlich ist, wäre ein wichtiger Schritt hin zur vollzogenen Energiewende.
Einfach wird dieser Schritt jedoch nicht sein. Allein zur Herstellung des von Thyssenkrupp in Deutschland für das aktuelle Stahlproduktionsvolumen benötigten Wasserstoffes wären gewaltige Mengen Strom nötig. Genauer gesagt 105 Terawattstunden pro Jahr oder beinahe die Hälfte des 2019 in Deutschland aus erneuerbaren Energien produzierten Stroms von 236 Terawattstunden. Nebst den Investitionen in die Technologie und die Stahlproduktionsanlagen ist somit auch ein massiver Ausbau der Infrastruktur zur Erzeugung von grünem Strom nötig.
Revolution des Transports
Airbus will bis 2035 emissionsfreie Flugzeuge produzieren können, drei entsprechende, auf Wasserstoffantrieb basierende Konzepte wurden bereits vorgestellt.
Das italienische Bahnunternehmen Ferrovie dello Stato (FS) hat Mitte Oktober die Zusammenarbeit mit Europas grösstem Gastransport-Unternehmen Snam bekannt gegeben. Zusammen wollen sie die Möglichkeit des Ersatzes von Erdgasen durch Wasserstoff im italienischen Schienenverkehr evaluieren. Gemäss Angaben von Snam wären rund 70% ihrer jetzigen Gas-Pipelines auch für den Transport von Wasserstoff geeignet. Den Akteuren an den Finanzmärkten bleibt diese Entwicklung nicht verborgen, so hat Goldmann-Sachs in Anbetracht der langfristigen Wachstumsmöglichkeit die Empfehlung für Snam von Sell zu Buy aufgewertet.
Dem flächendeckenden Gebrauch heute am nächsten ist grüner Wasserstoff im Strassenverkehr. Im Brennstoffzellen-Motor von Autos, Lastwagen oder Bussen findet die Umkehrreaktion der Elektrolyse statt. Wasserstoff- und Sauerstoffatome reagieren miteinander und formen sich zu Wasser, was als einziges Abfallprodukt des Prozesses aus dem Auspuff ausgestossen wird. Während des Vorganges werden Elektronen freigegeben, welche in Form von elektrischem Strom das Fahrzeug antreiben. Das Rennen um die Vorherrschaft bei den Brennstoffzellen-Fahrzeugen hat bereits begonnen. Das amerikanische Start-up Nikola Motor hat das ambitionierte Ziel, mit seinem Wasserstoff-LKW Diesel überflüssig zu machen und das Tesla der Branche zu werden. In den USA zählte Nikola deshalb auch zu den heissesten Aktien, verlor dann aber aufgrund von Betrugsvorwürfen und Zweifeln am Produkt um über die Hälfte des Wertes. Weiter sind da schon etablierte Autohersteller wie Toyota und Hyundai. Gerade letzten Monat übergab Hyundai im Rahmen einer Zeremonie im Verkehrshaus Luzern die ersten Wasserstoff-Serien-Lastwagen an Schweizer Kunden.
Ganz im Sinne von Jules Verne und seinen Romanen war dabei mit Bertrand Piccard auch ein Visionär und Abenteurer vor Ort. Er, dessen Solarflugzeug die Welt nur mit Sonnenenergie umrundet hat, sprach sich dabei enthusiastisch für das Schweizer Wasserstoffprojekt aus. Mehr zu der «Kohle der Zukunft» und Wasserstoff-Trucks in der Schweiz erfährt der interessierte Leser nächste Woche an dieser Stelle.