Macro Perspective: Unsicherheiten und Ungleichgewichte prägen 2022

Faktoren für die Börsenentwicklung 2022 – Jahr 3 der Pandemie

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Aufgrund der grossen Unsicherheiten sind die Aussichten für 2022 getrübt – oder gibt es am Ende doch positive Überraschungen? Bild: schweizeraktien.net

„Auf das Ungewisse schließe vom Gewissen.“ Solon, 640 vor Chr. – 560 vor Chr., Philosoph, Staatsmann, Begründer der Demokratie

Das neue Jahr beginnt bald – und es scheint schon jetzt wie ein déjà-vu. Insbesondere in Europa und den USA gibt das Virus in der Winterperiode wiederum den Takt vor. Verfrühte Hoffnungen auf den Re-Start der breiten Wirtschaft sind bereits wieder Makulatur. Dazu kommen fortgesetzte Lieferengpässe, steigende Preise und geopolitische Konflikte, die zu eskalieren drohen. Kein einfaches Anlageumfeld, vor allem, weil die Notenbanken mit ihrer Beschwichtigungspolitik scheinbar die Inflationsgefahren total falsch einschätzen.

Auf den britischen Inseln sind Alkohol, LKW-Fahrer und Hafenarbeiter nicht ausreichend verfügbar. Bei McDonalds in Japan werden Pommes Frites mangels Kartoffeln rationiert. Und in Neuseeland fehlt brauner Zucker, während in Australien ein Additiv für den Betrieb von Diesel-LKWs nicht lieferbar ist. Chips fehlen überall und Fachkräfte auch. Wie es scheint, ist das Zeitalter der „just-in-time“-Produktion und -Lieferung zu Ende. Logistik- und Transportexperten sehen keine Besserung in den nächsten zwei Jahren, und viele auch nicht später. Der Grund ist, dass Anpassungen zwar möglich sind, aber eben nicht kurzfristig. Das bedeutet auch, dass unter dem Weihnachtsbaum viele Play Stations, Puppen, Video-Spiele oder sonstige Geschenke fehlen.

Seetransport – der ultimative Engpass

Gegenwärtig warten Containerschiffe vor dem grössten Hafen der USA, Los Angeles, rund vier Wochen auf die Entladung. Vor der Pandemie waren jegliche Wartezeiten von mehr als einem Tag die Ausnahme. Die Transportkapazitäten fehlen, denn 90% des globalen Güterverkehrs finden auf den Seewegen statt. Schlimmer noch, die Containerschiffe fahren ohne Ladung aus den USA ab, denn das Warten würde weitere Zeit erfordern. Eine Leerfahrt nach China und neue Ladung aufzunehmen, die dann ein Vielfaches an Cargo-Gebühren bringt, ist wesentlich lukrativer.

Container und Kostenexplosion

Die Transportkosten für Container sind um ein Vielfaches gegenüber der Zeit vor der Pandemie gestiegen. Was damals noch weniger als 2 000 USD kostete, liegt nun bei über 20 000 USD. Allein im letzten Jahr stiegen die Frachtraten von Rotterdam nach New York oder nach Shanghai um über 200%. Neue Schiffe laufen nicht vor 2023/2024 vom Stapel. Auch die Umrüstung von herkömmlichen Frachtschiffen oder die Wiederinbetriebnahme von ausgemusterten Schiffen ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Profiteure sind Schifffahrtsgesellschaften wie vor allem Moeller Maersk oder Hapag-Lloyd.

Seit drei Jahren befindet der Aktienkurs von Hapag Lloyd im Aufwärtstrend. Chart: www.moneynet.ch
Fachkräftemangel und Migration

Eine der Konsequenzen der zutiefst gestörten globalen Lieferketten ist die späte Erkenntnis, dass es eben Grenzen gibt beim cost-cutting und outsourcing. In der Praxis sehen wir, dass viele Unternehmen die Produktion zurückholen – wenn nicht ins Heimatland, dann zumindest in die Nähe. Davon profitieren Standorte in Osteuropa, auf dem Balkan und im Mittelmeerraum. Die Hoffnung, dass die Produktion in Rumänien oder Slowenien günstig bleibt, könnte sich jedoch schon bald als trügerisch erweisen. Fachkräfte sind auch dort rar. Tatsächlich werden dort viele Jobs wie Koch, Taxifahrer oder Bauarbeiter von den ungeliebten Migranten aus Iran, Afghanistan oder Afrika ausgeführt, während Ingenieure, Programmierer oder Facharbeiter längst ausgewandert oder ins Ausland verliehen sind, um die Wirtschaft in Westeuropa, den USA oder andernorts, wo hohe Löhne bezahlt werden, am Laufen zu halten.

Realitätsverlust im digitalen Raum

Es läuft auf gravierende Engpässe am Arbeitsmarkt hinaus. Die Jugend in Westeuropa will lieber TikTok- oder Youtube-Star werden, als beispielsweise Maurer, Spengler oder Fliesenleger. So befindet sich gegenwärtig, als anekdotischer Hinweis, nur ein einziger Fliesenleger in Bayern in der Ausbildung. Wer soll also die Terrassen und Böden in der Zukunft legen, und zu welchem Preis?

Preistreibende Faktoren

Die Engpässe tragen wesentlich zu eskalierenden Preisen und damit der höheren Inflation bei. Es geht nicht um Peanuts. Die Produzentenpreise in Deutschland sind letzten Monat um 19,2% gestiegen und damit so stark wie seit 1951 nicht mehr! Der Konsumentenpreis-Index in den USA schiesst weiter in die Höhe, im letzten Monat um 6,2%. Dazu kommen neue nicht-tarifäre Handelshemmnisse, wie die drastisch verschärften Einfuhrbedingungen für Lebensmittel in China. Wegen Corona-Tests und Desinfektionsmassnahmen ist der Marktzugang für Spirituosen, Süsswaren, Gefrorenes erschwert. Speiseöle, Nüsse und andere Rohwaren wie ungeröstete Kaffeebohnen gelten als Hochrisikowaren. Die Lebensmittelimporte in China belaufen sich geschätzt auf rund 100 Mrd. USD p.a. Ein weiterer für den Welthandel dämpfender Faktor sind Sanktionen, wie sie zwischen den USA und China verhängt sind oder gegen Russland, Iran und weitere Länder.

Notenbanken im Abseits

Die Notenbanken sind mit ihrer Beschwichtigungspolitik erstmals „behind the curve“. Wenn auch nun im UK die erste kleine Zinserhöhung bereits erfolgt ist und die Fed letztlich drei kleine Zinserhöhungsschritte für 2022 angekündigt hat sowie ein vorsichtiges Zurückfahren der Bondkäufe, so werden diese Minimalschritte doch kaum die Inflationstendenzen bremsen. Die EZB bleibt vordergründig weiterhin gelassen und will auf Jahre hinaus die Geldpolitik nicht ändern, wenngleich es auch abweichende Ansichten gibt. Ähnlich beschwichtigend äussert sich auch die SNB. Der Unterschied ist, dass der Franken bombenfest ist und wohl auch bleibt, was der importierten Inflation entgegenwirkt.

Ignorieren der Inflation lässt sie nicht verschwinden

Die Kernfrage ist, ob sich die hohen Inflationsraten wieder normalisieren, wenn der Basiseffekt verpufft? Das wäre schön und die Notenbanken wären ihrem seit vielen Jahren gebetsmühlenartig wiederholten Ziel einer Jahresinflation von rund 2% nähergekommen. Doch danach sieht es immer weniger aus, weil die Verwerfungen multifaktoriell begründet sind und nur eingeschränkt von den Notenbanken kontrollierbar. Die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer sind trotz gegenteiliger offensichtlicher Entwicklungen immer noch niedrig. Das mag an dem blinden Glauben an die Allmacht der Notenbanken liegen oder auch nur daran, dass die meisten Marktteilnehmer ausschliesslich von der 40 Jahre währenden Disinflation geprägt sind. Erfahrungen wie die Ölschocks der 1970er Jahre fehlen. Es mangelt wohl auch an der Phantasie und dem historischen Studium zur Entstehung von Inflationserwartungen und -hysterie. Doch solche Dinge können sich durch schmerzhafte Erfahrungen schnell ändern. Ein aktuelles Beispiel bietet die Türkei, ein anderes mit nahezu dauerhaft hoher Teuerung Argentinien.

Inkonsequente Dekarbonisierungspolitik

Komplizierend kommen noch einmalige Faktoren hinzu, die ohne Beispiel in der Geschichte sind. Die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Erreichung der Klimaziele bis 2050 stellen monumentale Anforderungen. Hier zeigt sich noch eine extreme Polarisierung. Die meisten Akteure in der Wirtschaft verhalten sich unverändert und negieren die umfassenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Klimakatastrophe, Kollaps der Umwelt und Artensterben. Doch der Punkt ist bereits überschritten, an dem die Kosten den Nutzen augenscheinlich übersteigen. Bei einer Vollkosten-Analyse sind die Schäden der Karbon-Wirtschaft schon lange nicht mehr zu übersehen. Ganze Landstriche sind verwüstet und vergiftet. Die Folgen für die menschliche Gesundheit werden genauso ignoriert wie die Zerstörung der Öko-Systeme. Und obwohl die Förderung und Nutzung von fossilen Energieträgern zurückgefahren werden muss, um der Erhitzung des Planeten entgegenzuwirken, wozu sich fast 200 Staaten auch vertraglich verpflichtet haben, werden neue Vorhaben einfach durchgewunken. Genau das führt wiederum zu einer fortgesetzten Fehlallokation von Kapital. Nach einer aktuellen Studie drohen im mittleren Szenario Wertberichtigungen auf Karbon-Assets in Höhe von 16 Billionen USD – von aktuell 27 Billionen USD auf dann noch 11 Billionen USD.

Halbleere Pipelines

Der Fracking-Boom in den USA hat zwar kurzzeitig dazu geführt, dass das Land wieder unter den Top-Exporteuren gelistet war, doch das ist bereits wieder Vergangenheit. Die vor wenigen Jahren euphorische Stimmung hat zu einem Boom beim Aus- und Neubau von Pipelines geführt. Doch inzwischen werden die Kapazitäten gar nicht mehr benötigt. Die Auslastung der US-Pipelines sinkt und erreicht derzeit gerade 50%. Damit auch die Profitabilität der weitaus meisten Betreiber. Das weitere Schicksal der Karbon-Wirtschaft steht schon seit Jahren deutlich lesbar an die Wand geschrieben: „stranded assets“!

Generationenkonflikt ohne Lösung

Die Polarisierung in der Frage der Kurskorrektur der Weltwirtschaft zwischen den Generationen schreitet ebenfalls voran. In der Generation Greta glauben über die Hälfte, dass der Planet auf ein „Doomsday Scenario“ zusteuert. Die Generationen, die noch im „Drivers´ Seat“ sitzen, wollen jedoch vor allem so weiter machen wie bisher: „Après nous le déluge“!

Kurskorrektur in der EU

Die Kluft zwischen den alten EU-Ländern und den späteren Beitrittskandidaten wie Ungarn und Polen wird immer tiefer. Die offenkundig autoritären Systeme haben nurmehr wenig mit demokratischen Werten wie Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit, Medienvielfalt und Gleichheit unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, etc. zu tun. Das Treiben zahlreicher osteuropäischer Regierungen wird bislang mit vielen Milliarden Euro aus EU-Töpfen sogar noch unterstützt. Erst jetzt werden Zahlungen zurückgehalten.

Unterstützung für Populisten nimmt ab

Zu den erfreulicheren Entwicklungen zählt, dass die populistischen Parteien in ganz Europa inzwischen weniger Anhänger in der jeweiligen Bevölkerung finden. In den letzten drei Jahren nahm die Zustimmung in praktisch allen Ländern stark ab, nachdem sich zuvor die Popularität auf bis zu 25% vervielfacht hatte. Die Pandemie hat eben auch hohle Phrasen, Konzeptionslosigkeit und leere Versprechungen demaskiert. In Ländern wie Italien, wo Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt waren, haben wohl auch viele Wähler erkannt, dass sie nicht in einer mit dem Humanismus inkompatiblen Republik leben wollen.

2022 – Jahr der Überraschungen?

Der Ausblick auf das kommende Jahr ist so unsicher, wie seit langem nicht mehr. Die Intelligenz und Anpassungsfähigkeit des Corona-Virus wurden ausser von den Virologen krass unterschätzt. Zwar bleibt die Hoffnung, dass die Pandemie im dritten Jahr abklingt, doch danach sieht es gegenwärtig noch nicht aus. Im Gegensatz zu den beiden letzten Jahren kann auch infolge des Inflationsschubes nun nicht mehr unbedingt auf die bedingungslose Stimulierungspolitik der Notenbanken gesetzt werden. Mit dem Geist der Inflation, der seine Flasche verlassen hat, steht inzwischen schon die Geldwertstabilität auf dem Spiel. Die Zeit des „laissez-faire“ sollte damit eigentlich zu Ende gehen.

Geldwertstabilität vs. Modern Monetary Theory

Anleger, die nicht an Gedächtnisschwund leiden, werden sich erinnern, dass jedes Mal, wenn die Notenbanken in den letzten zehn Jahren auch nur ansatzweise die Liquiditätsschleusen verengt haben oder dies nur ankündigten, die Börse kollabierte. Vielleicht ist das der Grund, warum Insider bereits seit Monaten massiv Aktien verkaufen. Käufe und Verkäufe des Managements sind meldepflichtig und können verlässliche Signale zum Anlageverhalten des sogenannten „smart money“ liefern.

Börsenumfeld

Klar ist, dass Bonds im gegebenen Umfeld nicht attraktiv sind. Aktien sind zwar relativ hoch bewertet, doch aufgrund der anhaltenden Gewinndynamik wachsen sie in die Bewertungen hinein. Dazu kommt, dass die Dividendenrenditen im Verhältnis zu Einkommensströmen von anderen Finanzaktiva sehr viel höher ausfallen, was die Attraktivität der Anlageklasse Aktien erhöht. Allerdings sind ziemliche Divergenzen zu beobachten. Hervorragende Marktführer kommen nicht selten auf KGVs von 50 und mehr. Bei anderen Titeln kommt der Kurs trotz Gewinnerhöhungen nicht in Fahrt. Als Leitlinie kann gelten, dass diejenigen Unternehmen, die den Strukturwandel aktiv und lösungsorientiert mitgestalten auch bessere Gewinnperspektiven haben als die Nachzügler oder Mitläufer.

Richtig ist auf jeden Fall, offen und bereit für neue Erkenntnisse zu sein, denn, so sagte schon Solon vor 2 600 Jahren: „So lange du lebst – lerne. Warte nicht, dass das Alter dir Weisheit bringt.“

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