Macro Perspective: Inflation, Krieg und Börse

Rohstoffpreise, Knappheit und Krieg treiben Teuerung

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Drohen schon bald wieder leere Regale? Bild: PD

„Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben.“ Bertrand Russell, 1872-1970, Philosoph, Mathematiker, Literat

Seit vier Wochen herrscht Krieg am Rande Europas. Das wirft weitere Dilemmata auf: Millionen an Kriegsflüchtlingen, explodierende Rohstoffpreise, drohende Energieknappheit und nicht zuletzt die akute Gefahr einer Eskalation der Kriegshandlungen. Der Rat von Experten bringt wenig, denn selten wurden deren hohle Einschätzungen so schnell von der Realität überholt. Und was sagt die Börse?

Die Anleihezinsen sind jedenfalls kräftig angestiegen und erreichen bei den 10-jährigen US-Staatsanleihen nun schon 2,4%. Die japanischen, deutschen und Schweizer 10-jährigen Bonds haben die Null-Linie von unten nach oben durchstossen. Nicht nur Energie- und Transportkosten haben sich seit Kriegsbeginn weiter erhöht, inzwischen sind nahezu alle Rohstoffmärkte im Höhenflug.

Nahrungsmittelknappheit

Die beiden Kriegsparteien Ukraine und Russland sind zusammen für 30% der Welt-Weizenernte verantwortlich. Für Exporte sieht es schlecht aus, was vor allem bevölkerungsreiche Importländer in Afrika und Nahost trifft. Die Preise sind bereits um 70% angestiegen. Doch Länder wie Ägypten mit seiner 100 Mio.-Bevölkerung können das Grundnahrungsmittel Weizen nicht noch stärker subventionieren. 2011 hatte eine ähnliche Preisentwicklung bei Nahrungsmitteln in vielen Ländern der Region Hungerrevolten und kurzlebige Aufstände ausgelöst, die entweder brutal niedergeschlagen wurden wie in Syrien und Ägypten oder zu „failed states“ wie Libyen und Jemen geführt haben. Dort liegen auch die Ursachen für die Flüchtlingswellen. Doch Nudeln und Brot werden auch in der Schweiz teurer. Das gilt für viele weitere weiche Rohstoffe wie Kaffee und Zucker. Die Inflationsrate in der Schweiz erreichte im Februar mit 2,2% einen vieljährigen Höchstwert.

Nickelpreis-Kapriolen – eine lehrreiche Episode

An den Metallmärkten geht der Preistrend weiterhin aufwärts, allerdings wurden die Hochs, die nach dem unmittelbaren Kriegsbeginn erreicht wurden, inzwischen abgebaut. Bei Nickel wurde gar der Handel an der London Metal Exchange (LME) nach einem schnellen Preisanstieg um 270% am 8. März tagelang ausgesetzt – die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage war zu tief. Eine wichtige Rolle spielen im Fall Nickel massive Leerverkaufsvolumina in Multi-Milliarden Grössenordnung, vor allem durch chinesische Spekulanten. Ein führender chinesischer Nickelproduzent hatte den ungewöhnlich hohen Preissprung durch Eindeckungskäufe für eine seit dem Vorjahr aufgebaute Leerverkaufsposition ausgelöst. Deren Volumen betrug, zum LME-Spitzenpreis, berechnet über 9 Mrd. USD. Die finanzierenden Banken forderten höhere Einschüsse und müssen sich nun auch generell Fragen zu Kreditvolumina an Rohstoffhändler gefallen lassen, von denen es in der Schweiz ja sehr viele gibt. Immerhin steht bei möglichen Schieflagen ein Wertberichtigungsvolumen im Raum, das die Bankbilanzen überfordern könnte.

Verwerfungen am Nickel-Markt

Mehrtägige Handelsaussetzungen sind in der 145-jährigen Geschichte der LME äusserst rar, selbst in Kriegssituationen. Auch Preiskapriolen in einem Ausmass wie jetzt bei Nickel sind selten. Der Preis je metrischer Tonne war bereits seit Weihnachten von 20’000 USD bis 7. März 2022 auf 30’000 USD angestiegen, ist danach jedoch an der LME innerhalb von zwei Tagen bis über 100’000 USD geschossen. Der Handel wurde dann ausgesetzt. Die LME cancelte Trades im Volumen von 3.9 Mrd. USD und legte dann 48’000 USD als Basis für das Settlement fest. Seit der Wiedereröffnung des Handels in London mit vorübergehend verhängten täglichen Limits befindet sich der Preis jetzt in freiem Fall. Zuletzt wurden 28’000 USD bezahlt.

Markante Sprünge beim Nickel-Handel seit Februar 2022. Grafik: lme.com
Inflation und Zinsen

Trotz der Korrekturen der vorhergehenden Übertreibungen an den Rohstoffmärkten bleibt der Trend zu höheren Preisen bestehen. Auch hier gilt, dass die Börsen einem Antizipationsmechanismus folgen. Der Weizen, der wegen dem Krieg nicht gesät werden kann, wird auch nicht geerntet werden. Das Ausweichen auf Gerste, Mais, Reis wird auch dort zu Preissteigerungen führen. Inzwischen geben auch die Notenbanken klein bei und anerkennen, dass die Preissteigerungen auf breiter Front eben nicht temporär sind, wie sie bisher behauptet haben. In den USA liegt die Teuerung auf Konsumentenpreisbasis bei über 8%. In der EU ist es kaum weniger. Während die Fed und die Bank of England erste Zinserhöhungen bereits vorgenommen haben, lassen die Notenbanken von EU, Japan und Schweiz auf sich warten.

Lost in Propaganda

Auch andere Experten erscheinen ratlos. Was in den ersten Tagen und Wochen zu Form, Dauer, Zielen der russischen Invasion in der Ukraine zu hören und zu lesen war, kann aus heutiger Sicht nur als Fehlinterpretation auf der Basis vermeintlichen Wissens oder eben blanken Unwissens klassifiziert werden. Insbesondere ist es um die Putin-Kenner und -Versteher aus Politik und Wirtschaft ruhig geworden. Sie waren jahrelang als spezialisierte Wissensträger auf medialen Plattformen geradezu zelebrierte Gäste. Wie schon bei der Pandemie, ist die Medien-Berichterstattung gleichförmig, wenig differenziert und hintergründig. Das zeigt sich auch in den Börsenreaktionen. So erlitten chinesische Aktien einen erneuten Ausverkauf, als den westlichen Medien letztlich klar wurde, dass es auch eine militärische Allianz zwischen Russland und China gibt. Die ist jedoch nicht neu, wurde aber in der Ära der undifferenzierten China-Begeisterung einfach ausgeblendet. Seit dem Hoch bei über 300 USD im Oktober 2020 ist die Alibaba-Aktie zwischenzeitlich bis auf 75 USD abgerutscht. In der Macro Perspective vom November 2020 wurde explizit auf die Kursrisiken in China hingewiesen. Doch Kaufempfehlungen für Alibaba von westlichen Experten gab es schon bei 270 USD – und reichlich weitere auf dem Weg nach unten.

Der Kurs von Alibaba tendiert seit einem Jahr gegen Süden. Chart: money-net.ch
Motive für die Ukraine-Invasion?

Was die tatsächlichen Kriegsziele Putins sind, bleibt indes verborgen. Geht es um die Pufferzone zu NATO und EU, die permanent weiter nach Osten drängen? Geht es um eine Lektion für ehemalige Sowjetrepubliken und Warschauer Pakt-Staaten, was ihnen blühen könnte, wenn sie die Sicherheitsbelange Russlands nicht beachten? Es könnte aber auch darum gehen, die internen Konflikte der EU durch weitere Flüchtlingsströme zu befeuern und so durch eine tiefere innere Spaltung eine Schwächung der Demokratien herbeizuführen. Global gedacht kann es auch ein Vorspiel zu einer von China und Russland schon lange angestrebten Neuordnung der globalen Einfluss-Sphären geht. Denkbar ist natürlich auch, dass die Einsamkeit des Diktators an der Spitze der Nuklearmacht Russland ähnlich wie beim ersten Zaren und Reichsbegründer Iwan dem Schrecklichen und später Stalin zu einer paranoiden Störung geführt hat. Aus Angst vor der Schreckensherrschaft findet sich jedoch in Russland niemand, der den Spuk beenden kann.

Historische Mission

Die wichtigsten Hinweise zu Motiven und Zielsetzungen werden aber scheinbar im Westen nicht wahrgenommen. Sowohl Putin wie Xi Jinping haben nach ihrem Selbstverständnis eine historische Mission zu erfüllen. Beide beschäftigen sich viel mit Geschichte und sind somit den eher geschichtslosen westlichen Staatschefs überlegen. Beide können aus heutiger Sicht auch noch bis 2036 an der Macht bleiben, weil in Russland und in China entsprechende Verfassungsänderungen durchgeführt worden sind. Wer sich seiner Sache so sicher sein kann, kann auch historische Ziele verfolgen, die über das Ende der nächsten Legislaturperiode hinausreichen. Auch darin scheinen Putin und Xi Jinping den Regierenden im Westen überlegen zu sein, die stets ihre Umfragewerte mit Blick auf die nächste Wahl ins Kalkül ziehen müssen. Kontrolle müssen Putin und Xi Jinping nicht befürchten. Während in Zeiten der Sowjetunion mit der KP, dem Politbüro und Militär sowie KGB immer mehrere Kräfte an Entscheidungen beteiligt waren, sind es heute nur noch der KGB-Nachfolger FSB und der KGB-Spross Putin, die entscheiden. In China bleibt die etablierte Gewaltenteilung zwischen KP, Politbüro und der Regierung des Präsidenten fortbestehen. Doch seit Mao ist Xi Jinping der erste «grosse Führer» seit der Machtübernahme der Kommunisten. Die anderen Kräfte des Landes stehen hinter ihm.

Neue Weltordnung?

Wer sich etwas tiefergehender mit den beiden Führern Putin und Xi Jinping beschäftigt, kann durchaus in Erfahrung bringen, dass sich beide berufen fühlen, der globalen Hegemonialstellung der USA und ihrer Verbündeten ein Ende zu bereiten. Dazu passt auch, dass beide Länder überall dort in die Bresche springen, wo sich USA, UK, Frankreich oder EU-Länder zurückziehen, also vor allem in krisengeschüttelten Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien. Die jeweiligen Allianzen folgen weder ideologischen noch religiösen oder anderen Leitlinien. Das zeigt sich im ambivalenten Verhältnis Russland-Türkei, wo man einerseits Gegner ist, andererseits aber Verbündeter. Oder die seltsame Freundschaft Putins mit dem saudischen Machthaber, die nur auf Machterhalt ausgerichtet ist. Gemeinsam können aber Saudi-Arabien und Russland als grösste Ölförderländer den Markt in ihrem Interesse manipulieren. Sowohl Erdogan als auch Salman, Putin oder die Putschisten in der Sahelzone setzen skrupellos Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen als Mittel zum Machterhalt ein.

Teuerungswelle

Ganz allmählich ist das Erwachen zu den Realitäten im Westen. Die Energieversorgung steht dabei bislang im Vordergrund. Wie die Teillösungen auch aussehen werden, sie werden Folgen haben. Der schnellere Ausbau regenerativer Energien wird nun wohl mit etwas mehr Engagement betrieben werden. Doch ebenso werden wohl alternative Quellen erschlossen werden, wie Flüssiggas, wobei es in Europa bisher nur wenige Häfen gibt, die dafür konzipiert sind. Die höheren Preise für Energie, Metalle und Nahrungsmittel werden sich auch weiterhin in den Teuerungsraten niederschlagen. Die sind in der Schweiz wegen der starken Währung gedämpft, aber im Rest der Welt nicht.

Konsequenzen der Kriegswirtschaft

Die Frage ist nun, ob die Welt zur Normalität zurückfindet, Angebot und Nachfrage sich einpendeln und Diplomatie zur Konfliktlösung der Vorzug gegeben wird. Oder aber die Unsicherheit, das Bedrohungsszenario und Engpässe in der Versorgung der Bevölkerung die neue «Norm» werden. Das wäre bedauerlich, weil es dann zu einer Umstellung auf die Kriegsökonomie kommen würde. Bisher liegt der Anteil der ausgewiesenen Rüstungsausgaben am BIP in den europäischen Ländern, den USA und China bei zwischen 1% und 5%. In einem fortdauernden und eskalierenden Bedrohungsszenario würden die Rüstungsausgaben schnell auf 10%, 20% oder mehr ansteigen. Die Steuern würden erhöht, kriegswichtige Güter kontingentiert und die Produktionskapazitäten auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Folge sind unvermeidlich steigende Inflationsraten, wie es typisch für Kriegszeiten in allen Epochen ist. Eine Definition der Kriegsökonomie lautet: «Ein Massnahmenkatalog eines modernen Staates zur Mobilisierung der Industrie für die Kriegsproduktion.» Eine andere: «Ein System zur Produktion, Mobilisierung und Allokation von Ressourcen zur Aufrechterhaltung der Gewalt.»

Anlage-Dilemma

Unter Anlageaspekten betrachtet, bleibt die Lage schwierig. Daran ändert auch die Erholung an den Aktienmärkten in den letzten Tagen wenig. Bonds ohne nennenswerte Zinscoupons bleiben Verlustbringer. Aktien werden zunehmend differenziert betrachtet. Hochbewertete Wachstumsaktien, die von einer guten Konsumlaune, wirtschaftlicher Dynamik und zuversichtlich stimmenden Friedensbedingungen gestützt werden, werden es schwer haben. Was unter den veränderten Bedingungen zählt, sind Produkte und Dienstleistungen, die in jedem Umfeld benötigt werden wie Nahrungsmittel, Kosmetik, Medizinprodukte, Materialien, Maschinen und Anlagen. Nicht jedes Unternehmen ist in der Position, die Preise zu erhöhen und so die Wachstumsraten und Gewinnmargen weiter zu steigern. Worauf es abgesehen von der Nachfrage vor allem ankommt, ist «Pricing Power»!

Das Dilemma der Notenbanken

Wie werden die Notenbanken ihr Dilemma lösen? Die Zinsen kräftig erhöhen, um eine unkontrollierbare Inflationsentwicklung zu vermeiden, aber eine Rezession zu riskieren. Oder weiter auf Tiefzinskurs bleiben, monetäre Anpassungen nicht vornehmen und dadurch die Stabilität der Kaufkraft ihrer Währungen gefährden? So oder so, Anleger müssen mit Verwerfungen an den Märkten rechnen, wobei Aktien als Sachwerte nach aller Erfahrung Krisen noch am besten überstehen.

In gefährlichen Situationen wie der gegenwärtigen bekommt Russells weitsichtige Aussage, speziell für die politischen Machtträger und wie sie in die Geschichtsbücher eingehen wollen, besonderes Gewicht: «Die Weltgeschichte ist auch die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre.»

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