Jahrelang haben Von-Roll-Aktionäre mit ihrem Unternehmen gehofft und gebangt, schlechte Zahlen zähneknirschend verdaut und gute Zahlen gefeiert. Der Einstieg der Unternehmerfamilie von Finck liess manchen auf deren sonstige Aktivitäten und die dortigen Erfolge schielen, doch niemand kann Unternehmen ausserhalb der Gesetze des Marktes entwickeln. Immerhin gelang es den von Fincks nun endlich, wofür sie lange am Elektronikzulieferer Von Roll gearbeitet haben, nämlich einen Käufer zu finden. Bei den aussenstehenden Aktionären dürfte sich die Begeisterung darüber jedoch in engen Grenzen halten.
Zwangsweiser Abschied von der Börse
Elantas, eine Tochtergesellschaft des deutschen Spezialchemiekonzerns Altana, hat bereits 87,7% der Von-Roll-Aktien übernommen und will auch den Rest aufkaufen. Hierfür bietet sie einen Preis von 0.86 CHF je Aktie, u.a., weil dieser Preis auch für die bisher übernommenen Aktien bezahlt worden sei. Zwar werden ausweislich des Prospektes alle Aktionäre gleich behandelt und im Durchschnitt 0.86 CHF pro Aktie bezahlt, doch werden mithin rund 0.82 CHF an die langjährigen Grossaktionäre, die Clair AG und die Mitglieder der Familie von Finck, hingegen 2.17 CHF bzw. 2.57 CHF an den CFO Artur Lust und den CEO Christian Hennerkes bezahlt. Die mit der Übernahme verbundenen Beschlüsse hat die GV am 14. September 2023 bereits vorab genehmigt. Nach Umsetzung des voraussichtlich bis zum 27. Oktober 2023 laufenden Kaufangebots soll die Aktie dekotiert werden.
Für den angestrebten Zwangsausschluss der Streubesitzaktionäre müssen von den noch umlaufenden 12,3% des Aktienkapitals mindestens weitere 10,3% angedient werden, das Übernahmeangebot folglich eine Erfolgsquote von mindestens 83,8% haben. Falls Elantas mit ihrem Kaufangebot statt der für den Squeeze-out erforderlichen 98% nur die Schwelle von 90% Beteiligungsquote erreicht, soll der Zwangsausschluss über den Umweg einer Fusion der Von Roll Holding mit einer anderen, von Altana kontrollierten Schweizer Gesellschaft durchgesetzt werden. Insgesamt investiert Elantas für die noch ausstehenden Aktien rund 43 Mio. CHF. Das Gesamtvolumen der Übernahme beziffert sich somit auf rund 307 Mio. CHF.
Synergien aus ähnlichen Geschäftsfeldern
Die Übernehmerin Elantas produziert mit 12 weltweit verteilten Unternehmen und 1’083 Mitarbeitenden Schutzmaterialien und flüssige Isolierstoffe für die Elektro- und Elektronikindustrie. Aus dem Zusammengehen mit Von Roll als führendem Spezialist für elektrische Isoliersysteme, insbesondere von selbst entwickelten Hochleistungsmaterialien wie Isolationsbändern, Harzen und Verbundwerkstoffen, und seinen weltweit 14 Standorten und rund 950 Mitarbeitenden erwartet Elantas vielseitige Synergien. Die Eigentümerin von Elantas, die Altana AG, befindet sich zu 100% in Besitz der Skion GmbH, diese wiederum gehört zu 100% der (mindestens) durch ihre massgebliche Beteiligung an BMW bekannten Quandt-Erbin Susanne Klatten.
Es brauchte lange, um die Braut schön zu machen
Wohl kaum ein Aktionär wird sich mit Begeisterung von seinen Anteilen trennen. Von Roll hat viele Jahre tiefgreifender Sanierungsarbeit an ihrer einstmals breiten Palette von Aktivitäten hinter sich. Einige Geschäftsbereiche wie z.B. Solarenergie wurden unter Inkaufnahme schmerzhafter Verluste aufgegeben, andere Vermögenspositionen wie der Immobilienbestand liessen sich unter Aufdeckung stiller Reserven gut verkaufen. Dank der vorzeitigen Wandlung ihrer Wandelanleihe in 2018 und dem Verzicht auf Dividendenausschüttungen wurde die Bilanz aufgepolstert und nebenbei eine Kriegskasse für attraktive Übernahmen von rund 100 Mio. CHF angesammelt. Nun ist Von Roll selbst Objekt einer Übernahme geworden, und über die gesunde Bilanz und volle Kriegskasse darf sich Susanne Klatten freuen.
In den letzten sechs Jahren hatten treue Teilhaber wenig Anlass zur Freude (sofern sie nicht die wenigen steilen Anstiege kurzfristig für sich nutzen konnten), denn die Kursentwicklung zeigte tendenziell in Richtung «Südosten». Nun, wo auch dank innovativen Produktentwicklungen im Bereich grüner Energie besonderes Wachstum im Segment der Windkraftanlagenhersteller erwartet werden darf und berechtigter Anlass zur nachhaltigen Verbesserung ihrer Vermögensposition besteht, sollen die Aktionäre ihrer Hoffnung entrissen werden. Im ersten Halbjahr 2023 erreichte Von Roll bei nahezu konstantem Auftragseingang einen Umsatz von 122.6 Mio. CHF und damit 5,1% mehr als im Vorjahreszeitraum. Der Gewinn nach Steuern verbesserte sich um 33,7% auf 8.2 Mio. CHF oder 0.023 CHF je Aktie. Mit dem leicht gewachsenen Eigenkapital von 212.7 Mio. CHF oder knapp 0.60 CHF je Aktie erreicht die Eigenkapitalquote beinahe 80%.
«Fairness Opinion» zeigt alternative Bewertungen auf
Die von IFBC AG, Zürich, im Auftrag der Übernehmerin durchgeführte Fairness Opinion kommt – wenig überraschend – im wesentlichen zu dem Ergebnis, dass der Angebotspreis von 86 Rappen angemessen sei. Als massgebliche Bewertungsmethode wird die Discounted-Cashflow-Methode (DCF) benutzt, für welche eine Reihe von Annahmen getroffen werden muss, z.B. die Höhe der zukünftigen Erträge und Investitionen, des Fremdkapitals oder der Zinsen. Im Ergebnis wird ein durchschnittlicher Kapitalkostensatz (WACC) von 10,2% hergeleitet und ein Wert je Aktie von 85 Rappen errechnet. Schon geringfügige Änderungen in den Annahmen führen zu deutlichen Schwankungen des ermittelten Wertes, sodass der Gutachter eine Bandbreite von 74 bis 98 Rappen je Aktie attestiert.
Zur Bestätigung dieses Ergebnisses aus der Anwendung der durchaus «gestaltungsanfälligen» DCF-Methode betrachtet IFBC einerseits: Trading Multiples, also Wertrelationen bei vergleichbaren, börsenkotierten Unternehmen, und Transaction Multiples, die dieselben Wertrelationen bei Käufen und Übernahmen vergleichbarer Unternehmer aufzeigen.
Neben der Herausforderung, in Bezug auf ihre Geschäftstätigkeit, Grösse und Struktur eine Gruppe vergleichbarer Unternehmen zusammenzustellen, erscheinen Trading Multiples wegen der typischen Informationsassymetrie weniger gut geeignet als Transaction Multiples: Letztere werden von bestens über die Zielunternehmen informierten Profis als tatsächlich zu zahlende Preise für ein ganzes Unternehmen und mit nachhaltiger Wirkung ausgehandelt, während Börsenkurse für sehr geringe Anteile eines Unternehmens, für den Augenblick der Kursfeststellung und zwischen nur aufgrund gesetzlicher Publizitätsvorschriften informierten Investoren zustandekommen. Sprich: Es war schon immer leicht, durch zurückhaltende Informationspolitik bei einer Publikumsgesellschaft ein interessenorientiertes Kursniveau zu pflegen. So verwundert es kaum, dass die Betrachtung der tatsächlichen Transaktionen zu einem Vergleichswert von 1.18 CHF je Von-Roll-Aktie gelangt, diejenigen der Börsenkursrelationen lediglich zu 67 bis 72 Rappen.
Zumindest für Von-Roll-Aktionäre kein «goldener Handschlag»
Die Übernahme von Publikumsunternehmen mit anschliessender Zwangsabfindung der verbleibenden Aktionäre wird in der Branche gerne als «Endspiel» bezeichnet, denn während der kontinuierliche Börsenhandel jede Veränderung abertausender Marktteilnehmer in deren Bewertungseinschätzung abbildet, gibt es bei der Übernahme keine korrigierten Einschätzungen mehr: Was man nicht mit dem Übernahmeangebot oder der Zwangsabfindung erlöst, erlöst man auch später nicht mehr. Daher ist es historisch üblich, dass die häufig bestens informierten Übernehmer dem weniger gut informierten Streubesitz mit einer gewissen Übernahmeprämie auf das Kursniveau der Aktie helfen, sich von ihren Stücken zu trennen. Die Gefahr, dass diese tatsächlich mehr wert sind als die an der Börse gehandelt werden, wird dadurch erträglich gemacht.
IFBC hat 28 öffentliche Übernahmen aus der Zeit von 2011 bis 2022 analysiert und eine mittlere Übernahmeprämie (Median) von 21,9% auf den jeweiligen 60-Tages-Durchschnittskurs errechnet. Elantas kommt hingegen auf magere 8,9% dieses Risikopuffers für abgefundene Teilhaber. Ausgehend von der IFBC-Betrachtung darf es gerne ein bisschen präziser werden, denn eigentlich interessieren weniger die Prämien, sondern die «Prämien bei erfolgreichen Übernahmen». Fordert man eine Erfolgsquote von mindestens 90%, errechnet sich aus demselben Datenmaterial ein Median von 31,7% und ein arithmetischer Durchschnitt von 31,5% Aufschlag. Übertragen auf den volumengewichteten Durchschnittskurs (VWAP) der letzten 60 Handelstage vor Angebotsveröffentlichung von 0.79 CHF würde dieses Zahlenspiel einen Angebotspreis von 1.04 CHF nahelegen.
Fazit – oder: Sehr geehrte Frau Klatten
Bei allem nachvollziehbaren Verständnis für Ihr Ansinnen, a) Von Roll komplett zu übernehmen und b) nicht unnötig viel Geld dafür aufzuwenden zu wollen, sei zur Sicherung eines erfolgreichen Angebots eine Aufbesserung auf 1.00 CHF pro Aktie angeregt – Sie wollen doch nicht in die Statistik als negativer Ausreisser bei Übernahmeprämie und Erfolgsquote eingehen? Der Mehraufwand lässt sich mit bescheidenen 7 Mio. CHF beziffern. Statt eines Zwangsausschlusses können Sie die treuesten Freunde des Unternehmens an Bord behalten und bis auf weiteres ein kosten- und publizitätsminimales ausserbörsliches Listing pflegen.
Alternativ lässt sich die Unsicherheit über die zahlreichen Parameter des DCF-Modells, aus denen zukünftige Geschäftsergebnisse und daraus wiederum der Gegenwartswert der Aktie abgeleitet wurden, bequem durch eine erfolgsabhängige Kaufpreiserhöhung abfedern: Wenn die Geschäfte in den Jahren 2023, 2024 und 2025 überraschend besser laufen als dies zum Zweck der Bestätigung eines «angemessenen» Kaufpreises von 86 Rappen zurechtmodelliert wurde, so wird ein proportionaler Nachschlag auf den Kaufpreis ausgezahlt. Solch ein Nachzahlungsrecht könnte sogar kotiert und damit ein liquides Instrument werden, das die Markterwartungen für eine Weile widerspiegelt. Damit lassen sich vielleicht einige Aktienbesitzer überzeugen, die zwar grundsätzlich gerne verkaufen, sich aber keinesfalls «über den Tisch gezogen» fühlen wollen, wenn für die genannten Jahre plötzlich massiv gesteigerte Gewinne berichtet werden. Diesen letzten Respektsbeweis mit erfolgsabhängigem Wert und Interessensgleichrichtung sollten Ihnen Ihre Noch-Mitunternehmerinnen und -unternehmer in der Von Roll Holding AG doch wohl wert sein, oder?
Freundliche Grüsse aus der Schweiz
Volker Deibert