Macro Perspective: Was macht die Börse aus der «Neuen Weltordnung»?

Eskalation im Nahen Osten bringt Unsicherheiten und Verwerfungen

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Bildquelle: stock.adobe.com

«Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.» John F. Kennedy, 1917-1963, US-Präsident

Dass es in und um Israel herum brodelt, ist seit Jahrzehnten fast ein Normalzustand. Die Dimension ist jedoch seit dem 7. Oktober eine andere geworden. Internationale diplomatische Kommentare vergleichen die Situation zurecht mit 9/11. Was ist nach den Erfahrungen von 2001 und danach jetzt zu erwarten? Wie werden sich Wirtschaft und Börse entwickeln? Wie sind die geopolitischen Konsequenzen?

Wie konnte es im sicherheitsorientierten Staat Israel überhaupt zu den breit angelegten und lange geplanten Massakern kommen? Die Nachrichtendienste gelten als die Besten der Welt – und doch ist ihnen das Vorhaben völlig entgangen. Hier liegt auch die Ähnlichkeit zu 9/11. Die Anschläge auf das World Trade Center im Herzen von New York waren so unvorstellbar, dass die Schwachpunkte und die Anfälligkeit vernachlässigt wurden. Und damals wie heute wurden Warnungen und Hinweise von anderen Nachrichtendiensten nicht ernst genommen, was auch etwas über die eigene Überheblichkeit aussagt. Der ägyptische Geheimdienst hatte die Israelis Tage vor den Attacken eindringlich gewarnt, dass ein terroristischer Angriff aus Gaza kommend bevorsteht. Die Hinweise wurden, wie damals in den USA, ignoriert.

Versagen von Regierung und Sicherheitskräften

Schon seit vielen Monaten protestieren weite Teile der israelischen Bevölkerung gegen die von Premier Netanyahu und den ultra-orthodoxen Koalitionspartnern betriebene Justizreform, die, ähnlich wie in Polen und Ungarn, zu einem Demokratieverlust führen soll. Der Widerstand in Israel fiel allerdings sehr viel entschiedener aus als in den osteuropäischen Ländern, die auch EU-Mitglieder sind. Diese innenpolitische Spaltung verhinderte ein Fortkommen mit der Justizreform, was die Energien der angeschlagenen Regierung Netanyahu absorbierte. Selbst als die ersten Informationen über die Angriffe bekannt wurden, waren keine Truppen im Umfeld von Gaza verfügbar, sodass das schnelle militärische Eingreifen, für das Israel bekannt ist, unmöglich war. Ein Desaster für Regierung, Nachrichtendienste und Militär!

50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg

Es ist mehr als ein Zufall, dass fast auf den Tag genau vor 50 Jahren der Jom-Kippur-Krieg am 6. Oktober 1973 mit einem Überraschungsangriff Ägyptens, Syriens und weiterer Länder auf Israel begann. Es war bereits der fünfte Krieg in der noch jungen Geschichte des 1948 gegründeten Staats Israel mit den arabischen Nachbarstaaten. Der Unterschied zu damals ist, dass Ägypten, Jordanien und weitere arabische Staaten mittlerweile friedliche diplomatische Beziehungen zu Israel pflegen und dass die aktuellen Angriffe nicht von Staaten erfolgen. Sogar das erzkonservative Saudi-Arabien stand kurz davor, offizielle diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen.

Konsequenzen damals

Gleich dagegen könnte die Konsequenz des Versagens der Sicherheitskräfte ausfallen. Nach dem Jom-Kippur-Krieg, der nur 19 Tage dauerte, stürzte die israelische Regierungschefin Golda Meir im April 1974. Zu den innenpolitischen Folgen gehört ein nationales Trauma, da die israelische Armee bis dahin als unbesiegbar galt. Zu den direkten Folgen zählte auch eine nukleare Aufrüstung vor Ort durch die Sowjetunion und USA, die zur gefährlichsten Situation seit der Kuba-Krise 1962 geführt hatte. Weiterhin hat der erste Ölpreis-Schock von 1973, und damit der Beginn der Inflationsspirale der 70er Jahre, seinen Ursprung im Jom-Kippur-Krieg und den Folgen. In Israel wurde jetzt eine «Emergency Wartime»-Regierung aus allen Parteien gebildet, um den nationalen Konsens in der gegebenen Situation zu stärken. Fürs Erste hat sich Netanyahu damit etwas aus der Schusslinie der Oppositionskräfte gebracht, doch für wie lange? Das erneute nationale Trauma wird mit Sicherheit Folgen für die Regierung und die Sicherheitskräfte haben.

Marktreaktionen

Der Ölpreis zog seit Beginn der Eskalation im Nahen Osten um einige Prozent an, bleibt aber unter den Hochs der jüngeren Vergangenheit. Der Goldpreis stieg ebenfalls. Umgekehrt fielen die Renditen der US-Staatsanleihen zunächst, was wohl Flucht in den «sicheren Hafen» der Bonds darstellt. Inzwischen haben sie aber wieder angezogen und stehen bei 4,7% für die 10-jährigen US-Staatsanleihen. Die Aktienmärkte dagegen sind unentschieden. Teils fielen die Kurse wie verständlicherweise in Tel Aviv und Kairo, doch in den USA und Europa halten sich die Veränderungen in engen Grenzen, teils liegen die Indizes nach mehr als einer Woche des humanitären Schreckens und der Unsicherheit über die Folgen der Attacken sogar leicht höher.

Die Entwicklung des Goldpreises (Unze/USD) in den letzten 2 Jahren. Quelle: goldprice.org

Sprachlosigkeit

Wie in anderen Situationen, in denen sich «Unvorstellbares» ereignete wie 9/11, der Melt-Down der Börse 2008/2009, die erste Pandemie seit 100 Jahren oder die Invasion in der Ukraine, bleibt das Geschehen zunächst unfassbar. Die gleichförmigen Kommentare von Politikern und Medienberichterstattern stellen zwar das Grauen dar, doch Ursachenforschung, Zusammenhänge und Konsequenzen sind offensichtlich noch schwieriger zu begreifen.

Die Lunte brennt

Für den nüchternen Betrachter drängen sich jedoch schon jetzt einige Erkenntnisse auf. Die Attacken gegen Israel stellen eine Zäsur von weltpolitischer Tragweite dar, so wie 9/11 oder der Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Die Antworten, wie sie auch ausfallen mögen, werfen weitere Dilemmata für die Akteure auf. Im Extremfall ist mit einer nuklearen Eskalation zu rechnen. Der Iran wird zwar im Westen indirekt für verantwortlich gehalten, doch Beweise gibt es nicht. Der Konflikt greift bereits auf Israels Nachbarländer wie Libanon und Jordanien über. Die teils von Millionen getragenen Sympathiebekundungen in Bagdad und vielen andern Orten der islamischen Welt zeigen, dass die Lunte am Pulverfass bereits brennt.

Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien treten BRICS+ bei

Ein anderes Detail sollte zumindest zum Denken anregen. Die Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien werden beide der BRICS-Vereinigung beitreten, weiterhin Argentinien, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate (UAE). Die BRICS+ umfassen somit 11 Länder, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren und durch die Erweiterung als Gruppe weltwirtschaftlich noch bedeutender werden. Iran, Saudi-Arabien und die UAE sind wichtige Energielieferanten von China. Es ist zu vermuten, dass Xi Jinping mit grossem diplomatischem Geschick die Annäherung betrieben hat. Die Erzfeinde haben die diplomatischen Beziehungen zwischenzeitlich wieder aufgenommen. Auch zwischen Ägypten und Äthiopien spitzt sich ein Konflikt zu: um das Nilwasser. Beide Länder weisen jeweils eine Bevölkerung von rund 100 Mio. Menschen auf. Xi Jinping hat somit wohl gleich zwei Konfliktherde entschärft. Wahrscheinlich wird die diplomatische Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien unten den neuen Bedingungen nicht stattfinden.

Kriegsmüdigkeit und Budget-Effekte

Eine weitere Dimension entsteht durch die beginnende Kriegsmüdigkeit im Westen. Der Zermürbungskrieg Russlands gegen die Ukraine verschlingt Milliardenbeträge, die der Westen trotz aller Beteuerungen langfristig nicht schultern kann. Die Ukraine-Hilfe der USA stiess nun mit der Dauerthematik der Schuldenobergrenze an einen kritischen Punkt. Die Rechtsaussen-Fraktion der Republikaner im Kongress stimmte gegen eine weitere Erhöhung der Militärhilfe für die Ukraine. Weil der Präsident der Kammer, ebenfalls ein Republikaner, jedoch dafür gewesen war, wurde er aus dem Amt gejagt. Bislang ist kein konsensfähiger Kandidat gefunden worden. Die Unterstützung der USA für Israel ist zwar weitergehend, doch Jubel lösen absehbare weitere Kosten für Militärhilfe nicht aus. Darüber hinaus ist ein Streit entbrannt, ob die Hilfen für die Ukraine und Israel aneinandergekoppelt werden sollen und dürfen. Erst kürzlich waren grosse Mengen Munition von den USA aus der Lagerstätte Israel in die Ukraine verlegt worden.

Ölmarkt im Wandel

Für die Wirtschaft ist ein 9/11-Äquivalent schädlich, besonders, wenn der Zyklus seinen Zenit bereits überschritten hat wie 2001. Zwar spielt Öl inzwischen eine geringere Rolle im Energiemix wie vor 20 oder 50 Jahren, doch Länder wie Indien und China waren vor 50 Jahren noch Entwicklungsländer der Dritten Welt, sind heute aber als Zugpferde des globalen Wirtschaftswachstums hochgradig von fossilen Energieträgern abhängig. Das erforderliche Energie-Input übersteigt die Einsparungen im Westen bei Weitem. Insofern stimmt die Gleichung nicht, die Emissionen steigen deshalb weiterhin ungebremst. Indien ist mit 36% der russischen Ölexporte nach China mit 51% zum zweitgrössten Abnehmer von Öl aus Russland avanciert.

Absatz fossiler Brennstoffe seit dem EU-Verbot. Quelle: Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA)

Zinsanstieg

Komplizierend kommt hinzu, dass die Staatsfinanzen der westlichen Länder bereits strapaziert sind – und sich angesichts des steigenden Zinsniveaus auch jenseits der Schuldentragfähigkeit bewegen. Die Notenbanken entfallen als Käufer von Staatsanleihen, da sie ihre Bilanzen verkürzen. Die Investoren verlangen höhere Renditen angesichts der höheren Inflation. In den USA werfen die Staatsanleihen zwar eine zumindest wieder positive reale Verzinsung auf, da die Inflation zuletzt wieder auf unter 4% gefallen ist, in der EU jedoch nicht. Doch Krieg, Bündnisverpflichtungen und Aufrüstung kosten Geld. Geld, das am Ende immer der Steuerzahler aufbringen muss. Und ebenso bedeutet Krieg, dass die Inflation bleiben wird.

Scheinwelten und harte Realitäten

Insofern sind die Kapitalmärkte noch nicht wirklich in der Gegenwart angekommen. Sie diskontieren eine «Rückkehr zur Normalität», womit Pre-Covid, Pre-UkraineInvasion und Pre-Israel-Attacken gemeint ist. Doch das ist Illusion. Das Gefährliche ist, dass die Welt der Illusionen, Kunstwelten und Digital-Universen ein Eigenleben entwickelt hat und zu Scheinrealitäten führt. Das zeigt sich an den weitverbreiteten Pseudo-Lösungen für Schein-Probleme aller Art. Das gilt auch für die Kapitalmarktteilnehmer, die immer noch an eine Rückkehr in die «Normalität» tiefer Inflation und tiefer Zinsen glauben.

Dimons Sicht der Dinge

Nur wenige benennen die Risiken. Jamie Dimon, der CEO von JP Morgan, ist einer der glaubwürdigen Experten am Kapitalmarkt. Er sagt, dass die Welt «in der gefährlichsten Zeit seit Jahrzehnten lebt». Der eskalierende Konflikt habe «weitreichende Domino-Effekte, die weit über die Region hinausreichen». Insbesondere nennt er Energie, Nahrungsmittel, Welthandel und geopolitische Beziehungen. Schon vor der Eskalation in Israel hatte Dimon Ende September explizit vor höheren Zinsen gewarnt. JP Morgan empfehle den Kunden, auf finanziellen Stress vorbereitet zu sein, wenn die Zinsen auf 7% steigen würden.

Krisen in Serie?

Die Zwischentöne in der sich langsam entwickelnden Krise stimmen nicht positiv. Hielt sich der Iran mit Äusserungen zunächst zurück, kommen inzwischen harschere Töne, die auch als Ultimaten an Israel interpretierbar sind. Der saudische Herrscher sagte, dass die Feindseligkeiten gegen die Palästinenser aufhören müssen. Die USA versicherten, dass sie an der Seite Israels stehen. Ein zweiter Flugzeugträger wurde in die Levante beordert. Allerdings waren die Kontakte zwischen Biden und Netanyahu seit Monaten auf einem Tiefpunkt, da die Justizreform in Israel als undemokratischer Umtrieb gesehen wird. Schwer vorstellbar, dass Russland nicht an der weiteren Eskalation im Nahen Osten beteiligt ist. Die Liste der bewaffneten Konflikte wird länger: Ukraine, Sahelzone, Armenien-Aserbaidschan, Kosovo-Serbien und jetzt auch noch Israel.

Kennedys Einschätzung ist richtig: «Es ist das Schicksal jeder Generation, in einer Welt unter Bedingungen leben zu müssen, die sie nicht geschaffen hat.» Jede Generation ist aber frei, die Bedingungen zu verbessern. Der Marsch durch die Institutionen während der vergangenen 50 Jahre hat zwar vieles verbessert, doch mit Blick auf CO2-Konzentration, Umweltzerstörung und Stellvertreterkriege definitiv nicht. Ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Demokratie ist die Kriminalisierung der «Letzten Generation» und anderer Aktivisten, die letztlich nur die Lebensbedingungen auf dem Planeten erhalten wollen. Die Mittel wie Klebstoff und Farbe sind gewaltlos. Korrupte Politiker, Waffen- und Menschenhändler gehen dagegen frei aus.

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