In keinem Standardwerk der nationalökonomischen Fachliteratur ist etwas über Negativzinsen zu finden, stellen sie doch die mehr oder weniger begründeten etablierten Wirtschaftstheorien auf den Kopf. Sind Negativzinsen gar keine Zinsen, sondern eine Gebühr, wie das deutsche Finanzministerium argumentiert? Stimulieren sie wirklich die Wirtschaft wie SNB, EZB und BoJ nicht müde werden zu behaupten? Oder handelt es sich bei genauerer Analyse doch nur um eine kreative „Steuer im Schafspelz“ wie die St. Louis Federal Reserve glaubhaft darlegt – und damit um alles andere als die proklamierte „Stimulierung der Wirtschaft“?
Da ein Bild mehr als tausend Worte sagt, spricht die Abb. 1 (siehe unten) aus dem St. Louis Fed Paper eine deutliche Sprache, es zeigt drastisch gesunkene Kurse der Bankaktien in Europa und Japan. Das ist eine der Konsequenzen der Negativzinspolitik, die in dem Anfang Mai 2016 veröffentlichten Paper aufgezeigt werden. Die Bank akzeptiert eine Schmälerung der Zinsmarge, was die Gewinne reduziert und sich dann in schwachen Aktienkursen ausdrückt.
Alternativ kann die Bank die Zinsen auf Einlagen reduzieren oder die Negativzinsen auf die Depositenhalter umlegen, wie es in der Schweiz die Alternative Bank als erste getan hat. Die dritte Möglichkeit ist, die Kreditnehmer mit höheren Zinsen zu belegen, wie sich in der Entwicklung der Hypothekenzinsen in der Schweiz ausdrückt, die sich seit längerem langsam nach oben bewegen. (Abb. 2, St. Louis Fed.)
Negativzinsen sind Kosten
Das Research Department der St. Louis Fed kommt zu dem wenig überraschenden Schluss, dass, welche Kombination auch immer, die Kosten der Negativzinsen von einer oder mehreren der drei involvierten Parteien, Bank, Depositäre, Kreditnehmer, zu tragen sind – durch entgangenen Gewinn und schwächere Aktienkurse mit der Folge höherer Finanzierungskosten für Banken, durch entgangene Zinseinnahmen und Gebühren für Depositäre sowie höhere Zinsen und Gebühren für Kreditnehmer.
Stimulierung entmystifiziert
Bei dieser Betrachtung, so die St. Louis Fed, käme kein Ökonom auf den Gedanken, dass Negativzinsen stimulierend für die Wirtschaft sein könnten. Sie würden vielmehr wirken wie eine zusätzliche Steuer auf Privathaushalte, die danach nicht mehr, sondern eben weniger ausgeben würden.
Eigentlich sollte in der Schweiz sogar ein besonderes Verständnis für die weitreichenden Implikationen der Negativzinspolitik bestehen, immerhin gab es bereits in den 1970er Jahren eine Episode, bei der ebenfalls aus Gründen der Währungspolitik für eine Periode von einigen Jahren 2% Zinsen pro Quartal auf ausländische in Franken geparkte Beträge erhoben worden war. Und auch in der gegenwärtigen Phase war die Schweiz das Land, das sich am tiefsten in die Zins-Unterwelt vorgetraut hat, indem die SNB so entschieden Zuflucht zu dem ungewöhnlichen Policy-Tool nahm.
Ein riskanter Verzweiflungsakt
Stephen Roach, Yale Professor und Ex-Chairman von Morgan Stanley sowie einer der Top-Ökonomen, hält die Negativzinspolitik der entsprechenden Notenbanken dagegen für einen Akt der Verzweiflung. Das grösste Risiko sieht er darin, dass Banken negativ sanktioniert werden, wenn sie keine Kredite vergeben, was neue Risiken mit sich bringt, vor allem eine Zunahme der Zombie-Banken. Durch die Vergabe unwirtschaftlicher Kredite entstehen die Non-Performing Loans (NPLs) der Zukunft. Die Gefahr ist seiner Einschätzung nach, dass durch die Schöpfung von immer mehr Liquidität eine Liquiditätsfalle aufgebaut wird, die wie in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts in einer Depression enden könnte.
Müll rein, Müll raus
Einen Schritt weiter geht Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der „Müll rein, Müll raus“ sagt, um das Negativzinsszenario zu beschreiben. Nach seiner Einschätzung halten die Notenbanken viel zu lange an ihren ökonometrischen Modellen fest, die oftmals fern der Realitäten seien. Z.B. würde es für die Kreditvergabe an KMU keine Rolle spielen, wie das Renditeniveau der Staatsanleihen sei, auch bei minus 3% oder minus 4% würden die Banken ihre Ausleihungen an KMU nicht erhöhen, weil der Negativzins ihren Bilanzen Schaden zufüge. Er weist noch auf weitere volkswirtschaftliche Folgen hin, die oft übersehen werden. Die günstigen Finanzierungsbedingungen für bonitätsstarke Multis beschleunige die Investitionen in Automatisierungstechnologien, was dazu beitrage, Arbeitsplätze schneller abzubauen bzw. nicht mehr zu ersetzen. Weiterhin werden durch die Negativzinsen vor allem Pensionäre geschädigt, die ihren Konsum einschränken müssen. Zudem würden Anleger zu riskanteren Investitionen verleitet, was zu einem bösen Erwachen führen kann.
Nach Stieglitz‘ Einschätzung ist die fehlende globale Nachfrage der Hauptgrund für die Existenz der Negativzinsen. Und gerade in den Ländern, wo die Nachfrage durch Negativzinsen stimuliert werden soll, fällt das Wachstum besonders anämisch aus, im Euro-Raum, in der Schweiz und in Japan.
Untersuchung der Weltbank
Bereits im Juni 2015 veröffentlichte die Weltbank eine Untersuchung zu den Ursachen und Auswirkungen der Negativzinspolitik, die neben den bereits angesprochenen Punkten auch auf die Geldmarktfonds hinwies. Diese gelten bei Anlegern als konservativ und könnten bei plötzlich auftretenden Nettovermögenswerten unter 100% eine Vertrauenskrise auslösen. In Dänemark hat sich gezeigt, dass ein solches nicht vorgesehenes Phänomen den Anlegern vermittelt werden konnte. In den USA wurde das Problem 2008 durch explizite staatliche Garantien gelöst, inzwischen publizieren die Money-Market Funds auch die Net Asset Values (NAV).
Versicherungen und Pensionskassen in der Bredouille
Ein weiterer Punkt, der inzwischen durch den Münchener Rück-Chef Nikolaus von Bomhard sogar in die Schlagzeilen gekommen ist, betrifft die institutionellen Anleger wie Versicherungen und Pensionskassen, die angesichts des hartnäckigen Verweilens südlich des „Zero-Bounds“ ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen können. Zahlreiche vor Jahren und Jahrzehnten abgeschlossene Verträge sind mit einer Garantieverzinsung von oft mehr als 4% p.a. ausgestattet. Das können konservative Anleger nun schon länger nicht mehr erzielen, denn ca. 40% der europäischen Staatsanleihen notieren inzwischen mit negativen Vorzeichen.
Breite Diskussion steht noch aus
Bei der SNB selbst ist ausser der minutiösen Regelung des Abrechnungsmodus und der Grenzwerte zum Thema Negativzins nichts weiter zu finden. Die nur vereinzelten Äusserungen wie hier von Martin Scholl, CEO der ZKB, oder anderen Entscheidungsträgern bei den Schweizer Banken sowie Anlegern und Kreditnehmern zeigen, dass die Diskussion der Beteiligten so weit nicht ernsthaft und schon gar nicht kontrovers geführt wird. An Denkanstössen fehlt es jedenfalls nicht. Selbst die stets um gutes Einvernehmen bemühten Schweizer dürften eine neue Steuer, die nicht mal so genannt wird, nicht einfach schlucken, vor allem wenn die behaupteten volkswirtschaftlichen Vorteile sich nicht beweisbar materialisieren.