Als der chinesische Immobilienkonzern Evergrande vor einem Jahr in Richtung Konkurs schlittert, machen unheimliche Bilder von chinesischen Geisterstädten die Runde in der Weltpresse. Wer dort von der Leerwohnungsproblematik spricht, befindet sich gleich im Monumentalen. Nicht so in der Schweiz, wo die stets bescheideneren Verhältnisse immer dafür gesorgt haben, dass unsere Städte noch durchwegs belebt sind. Allerdings haben leere Wohnungen auch den Immobilienakteuren im beschaulichen Alpenland einige Jahre Ärger und Sorge bereitet. Von daher dürften die kürzlich publizierten Zahlen vom Bundesamt für Statistik über Leerwohnungen an sich auf positives Echo stossen. Tatsächlich stehen in der Schweiz immer weniger Wohnungen leer. Die Leerstandsquote ist in diesem Jahr schweizweit auf 1,31% gesunken. Im Vorjahr hatte die Kennzahl noch 1,54% betragen. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick bescheiden, doch in absoluten Zahlen standen im Juni dieses Jahres rund 61’500 Wohnung leer, knapp 9’900 Wohnungen weniger als im Jahr zuvor. Wenn man alle leeren Wohnungen allen Einwohnern einer Gemeinde zuteilen würde, ergäbe dies eine Gemeinde in der Grösse von Rümlang, Altdorf oder Willisau.
Die Huttwilisierung der Schweiz
Nach einer jahrelangen Zunahme befindet sich die sogenannte Leerwohnungsziffer also wieder im Rückwärtsgang. So endet eine Periode, die sich in manchen Jahren und in manchen Gemeinden ziemlich dramatisch zugespitzt hatte. Ein von den Medien immer wieder gern zitiertes Anschauungsobjekt befindet sich mitten im Emmental. Die Gemeinde Huttwil gab bei der Zählung im Jahr 2018 eine Leerstandsziffer von 15% bekannt. In absoluten Zahlen warteten 300 verwaiste Wohnungen auf ihren neuen Besitzer. Seither hat die «Huttwilisierung» der Schweiz ihren Lauf genommen. Das Phänomen bezeichnet einen überbordenden Bauboom in peripheren-ländlichen Gemeinden und lässt sich teilweise immer noch beobachten. Im Kanton Zürich hat der Bauboom dazu geführt, dass sich zwischen Zürich und den äussersten Zürichsee-Gemeinden ein einziger Häuserbrei erstreckt. Wie ist es so weit gekommen?
Negativzinsen feuern Bauboom an
Seit der Finanzkrise 2008 haben die Notenbanken ihre Geldschleusen weit geöffnet. 2014 beschliesst die Schweizerische Nationalbank, Guthaben auf ihren Girokonten mit einem Zins in Höhe von -0,25% zu belasten.
Im Sog der Minuszinsen sinken auch die Zinsen der festverzinslichen Anlagen, die den institutionellen Investoren als konservatives Anlagevehikel dienen. Banken, Versicherungen, Pensionskassen und andere institutionelle Investoren müssen also nach alternativen Anlagegefässen mit überschaubarem Risiko Ausschau halten und werden fündig bei Immobilienanlagen. Das Problem dabei: Der daraus entstehende Bauboom im Bereich von Wohnrenditeimmobilien führt zu den bereits erwähnten Übertreibungen. So entstehen beispielswiese in eher ländlichen Kantonen wie Wallis, Solothurn oder Thurgau deutlich mehr Wohnungen als nachgefragt werden.
Und dann kommt die Zinswende
Vor rund einem Jahr hat sich die geldpolitische Wende bereits langsam bemerkbar gemacht in Form von wachsender Inflation. Die rekordhohen Teuerungsraten haben die Zentralbanken zum Handeln gezwungen. Auch die Schweizerische Nationalbank hat den Leitzins Mitte Juni angehoben: von -0,75 auf noch -0,25 Prozent. Weitere Zinserhöhungen sind zu erwarten. Wie wirkt sich diese Zinswende auf die Wohnimmobilien aus? Kalt erwischt wurden sicherlich die Eigenheimbesitzer. Denn bereits haben die Zinssätze für Festhypotheken wieder stolze Höhen erklommen. Wer jetzt seine Hypothek ablöst, muss dringend über die Bücher.
Bei Wohnrenditeliegenschaften sieht die Situation etwas anders aus. Denn die institutionellen Anleger sind meistens nicht auf einen Bankkredit angewiesen, um ihr Immobilienportfolio zu erweitern. Sie werden jetzt andere Überlegungen anstellen: Wie sinnvoll ist es zum Beispiel, teure Renditeobjekte an Toplagen mit Bruttorenditen von unter 2% zu kaufen, wenn sich mit der Vergabe von Hypotheken 2,5% oder mehr verdienen lässt? Im Endeffekt bedeutet das: Die Zeiten des viel beschworenen Anlagenotstandes sind vorbei. Jetzt wäre zu erwarten, dass weniger Mehrfamilienhäuser gebaut würden. Tatsächlich hat die Bautätigkeit bereits 2019 ihren Zenit überschritten und nimmt seither ab. In den vergangenen zwei Jahren sind insgesamt 4800 Wohnungen weniger baubewilligt worden als in den zwei Jahren davor. Auch die Corona-Krise und die beschädigten Lieferketten kommen hier ins Spiel. Bauverzögerungen durch Lieferengpässe und die starken Anstiege der Baupreise könnten den Rückgang temporär noch verstärken. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Wohnungen weiter an.
Wohnbevölkerung in der Schweiz wächst stetig
Die kräftige wirtschaftliche Erholung und die fortschreitende Bewältigung der Pandemie haben zu zusätzlichen Haushaltsgründungen geführt. Die Nachfrage nach Mietwohnungen hat zudem von der Zuwanderung profitiert. Seit 2002 ist die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz im Durchschnitt pro Jahr um 0,9% gewachsen. Die Bevölkerungszahl hat damit in den vergangenen 20 Jahren um 1.4 Millionen Personen zugelegt. Im Jahr 2021 lebten hierzulande 8.74 Millionen Menschen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres liegt die Zuwanderung in die Schweiz netto bei knapp 38'000 Personen. Im vergangenen Jahr 2021 hat der Wanderungssaldo der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung laut der Ausländerstatistik rund 61'000 Personen betragen und ist somit stabil geblieben im Vergleich zum Vorjahr.
Fazit
Wenn das Angebot mit der Nachfrage nicht mehr Schritt hält, werden die leer stehenden Wohnungen absorbiert, was sich nun in der rückläufigen Leerstandsquote gezeigt hat. Der Trend hin zu weniger leer stehenden Wohnungen dürfte vorerst anhalten. Wenn zusätzlich zur Zuwanderung auch die geflüchteten Menschen aus der Ukraine Wohnraum nachfragen, dürfte sich diese Entwicklung noch beschleunigen. Es ist davon auszugehen, dass die nicht ausreichende Bautätigkeit auch mit der wachsenden Bodenknappheit zusammenhängt. Hierbei dürfen auch das revidierte Raumplanungsgesetz sowie verschiedene kantonale und kommunale Vorstösse eine Rolle gespielt haben.