Sulzer: Cleantech statt Ölpumpe

Alter Industriekonzern mit neuem Geschäft und neuem Gewand

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Sulzer bietet eine grosse Vielfalt an Pumpen und zugehöriger Ausrüstung für die Gewinnung und den Transport von Wasser sowie für die Abwassersammlung und Behandlung für Gemeinden und Industrien. Bild: sulzer.ch

Tunnelbohrmaschinen, Lokomotiven, Jettriebwerke, Textilmaschinen, Brennstoffzellen – die Sulzer AG hat schon vieles produziert, doch im Laufe der Jahrzehnte und industriellen Zyklen immer wieder die Palette der Produkte und Dienstleistungen angepasst. Es wundert also wenig, wenn sich die aktuellen Umsatzträger des weltweit tätigen Konzerns von dem wegbewegt haben, was vielen Investoren noch im Gedächtnis haftet. Der einstige Mischkonzern für Öl- und Gasförderbedarf existiert nur noch in der Erinnerung mancher Börsianer.

Die Evolution des Schweizer Industrie-Urgesteins geht weiter

Jeder Fondsmanager mit dem Stichwort «Nachhaltigkeit» auf der Agenda muss eine Aktie wie die der Firma Sulzer von vor zehn Jahren im hohen Bogen aus dem Depot werfen und, wie man so schön auf neudeutsch sagt, «blacklisten». Wer will sich schon gerne von seinen Geldgebern vorhalten lassen, er würde die Anlageperformance teilweise von einem Hersteller für Erdöl- und Erdölproduktepumpen oder Verdichtern für Erdgas abhängig machen? Fossile Energieträger, deren Verbrennung CO2 freisetzt – wie Neunzigerjahre ist das denn? Wer sich das Programm des 189-jährigen Winterthurer Weltkonzerns mit rund 14’000 Mitarbeitenden, 3,2 Mrd. CHF Jahresumsatz und 200 Mio. CHF Vorsteuergewinn (Geschäftsjahr 2021) heute aus der Nähe betrachtet, kommt aus dem Staunen kaum heraus: Mittlerweile regieren Wasseraufbereitung und -entsalzung, Decarbonization, Kreislaufwirtschaft, Biokunststoffe und Cleantech die strategische Ausrichtung. Gemeinsam mit BASF wird Plastikmüll aus dem Meer recycelt, mit Cellicon werden abbaubare Biopolymere entwickelt und produziert, mit Shell wird aus CO2 klimaneutraler Biosprit hergestellt, und mit Blue Planet arbeitet Sulzer an einem Beton, der mehr CO2 aufnimmt als abgibt.

Die Kreativität bei der Unternehmensentwicklung endet bei Sulzer nicht damit, die einen Geschäftsbereiche aufzugeben und dafür andere voranzutreiben. In 2021 freuten sich die Aktionäre über den Börsengang des ehemaligen Bereichs «APS», in dem die Aktivitäten in Medizintechnik, industrieller Dosieranlagen und Kosmetik versammelt waren, unter dem neuen Firmennamen medmix. Bei dieser Gelegenheit generierte Sulzer für sich Liquidität, verringerte die eigene Verschuldung und verbesserte somit die eigenen Bilanzrelationen. Durch den Spin-off wurde ein ausserordentlicher Ertrag von 1,28 Mrd. CHF aufgedeckt, der einen Hinweis auf weitere stille Reserven in den Büchern von Sulzer liefern mag.

Risikoabschläge sind im Aktienkurs eingepreist – und die Chancen?

Wer nur in medmix investiert ist, möchte dieser Tage angesichts einer gedrittelten Börsenbewertung vielleicht die Faust in der Tasche ballen, doch die gute operative Entwicklung des hochmargigen Geschäfts liefert dafür keinen logischen Anlass. Viel eher könnte ein Grund für die magere Performance in regulatorisch bedingten Aktienverkäufen institutioneller Investoren zu suchen sein, wenn diese ausschliesslich in Sulzer, nicht jedoch in der kleineren medmix engagiert sein wollen. Eine lange Historie ist für manchen Aktienkäufer ein gutes Zeichen und deutet auf wohlgeübte Corporate Governance hin. Medmix dagegen ist für sich genommen ein Kapitalmarktfrischling, der sich erst noch sein eigenes Börsenimage erarbeiten muss.

Sowohl medmix als auch Sulzer selbst sind mit einem Malus für den sanktionsbelegten Grossaktionär Victor Vekselberg belastet. Wenn sich dieser auch als, wie das Unternehmen betont, verlässlicher Partner bewiesen und Einmischungen in das Tagesgeschäft unterlassen hat, so musste er in der Vergangenheit bereits einen Teil seiner Aktien abgeben, um als «Nur-noch-Minderheitsaktionär» mit 49% eine Beeinträchtigung der Geschäftsmöglichkeiten für das Unternehmen zu vermeiden. Die Angst, dass weitere Sulzer-Aktien aufgrund externer Anlässe umplatziert werden und dies zwangsweise über die Börse geschehen müsse, trägt gewiss zur Zurückhaltung bei.

Flow Equipment: Alles fliesst…

Die Division Flow Equipment umfasst alles, wo Flüssigkeiten gepumpt, gemischt, verdichtet, expandiert, belüftet und gemahlen werden. Im ersten Halbjahr 2022 wuchs das Geschäft vor allem dank der dynamischen Nachfrage aus Nord-, Mittel- und Südamerika organisch um 13,1% und insgesamt um 14% auf einen Auftragseingang von 632 Mio. CHF. Die operative Profitabilität in Form des bereinigten EBITDA erreichte 5,3%. Nach dem Kauf von Nordic Water stellt die (Ab-)Wasserbehandlung, einschliesslich der Pumpen für Meerwasserentsalzungsanlagen, mit 39% Anteil am Auftragseingang den wichtigsten Bereich innerhalb von Flow Equipment dar, gefolgt von Industriebedarf mit 31% und Energiewirtschaft mit 30%. Letzterer Bereich profitiert insbesondere vom weltweit wachsenden Bedarf nach moderner Energieinfrastruktur. Mit Hilfe weiterer, neuer Cleantech-Lösungen will Sulzer dazu beitragen, die Energiewende voranzutreiben und den steigenden Infrastrukturbedarf für Wasser- und Industrieanwendungen zu bedienen. Im ebenso wachsenden Industriesegment stellt die in der ersten Jahreshälfte 2022 angekündigte Lieferung verschiedener Prozesspumpen für die neue Biokraftstoffanlage von Shell in Rotterdam für jährlich 820’000 Tonnen kohlenstoffarmer Kraftstoffe (LCF) ein trendiges Vorzeigeprojekt dar.

Services: Reparaturen und alles weitere

Wartung, Auf- und Nachrüstungen, Ersatzteilfertigung und Reparatur für fast alles, was sich im industriellen Einsatz (und eher schnell) dreht, findet im Bereich Services statt: Pumpen, Generatoren, Turbinen, Motoren, Kompressoren, insbesondere permanent überwachte Komponenten in sensiblen Bereichen, z.B. Energie-Infrastruktur wie Solar- und Wasserkraftwerke. Ressourcenschonende Nachhaltigkeit bedeutet dabei in erster Linie Effizienzsteigerung durch einen besseren Wirkungsgrad und längere Verfügbarkeit der Anlagen. Erfreuliche Aufträge aus dem Rest der Welt überkompensierten hier auch den Einbruch im Russland-Geschäft und lieferten bei 2,7% Wachstum (davon organisch: 2,4%) im ersten Halbjahr des laufenden Jahres 543 Mio. CHF bei einer operativen Profitabilität von 13,3%. Der Löwenanteil der Division entfällt mit 55% auf Services für Pumpen aller Art. Dank langfristiger Wartungsverträge sind Teile der Einnahmenbasis besonders risikoarm und für die Zukunft abgesichert.

Chemtech: Zukunftschemie – nicht Zukunftsmusik

Prozesstechnik, Trennungstechnik, Reinigung und Steuerung von Stoffströmen, CO2-Einfang und -Speicherung, Recycling von Polymeren und Textilien, – was klingt wie die Zielallokation eines grünen Investmentfonds, ist die Palette an Tätigkeiten in der Sulzer-Division Chemtech. Aber, ja, noch gehören auch mit 16% Anteil am Auftragseingang Komponenten für Gasförderer und Raffinerien dazu – Tendenz weiter planmässig abnehmend. Der grösste Anteil des Auftragseingangs im ersten Halbjahr 2022 von 342 Mio. CHF entfiel mit 53% auf Kunden aus der Chemieindustrie. Als Kerngewinnmarge werden 9,9% genannt. Per Juni 2022 wuchs der Bestellungseingang über alle Regionen hinweg um 21%, abgesehen von Russland mit einem Minus von 88%.

Sulzer-Anlage, in der Abfälle zu Treibstoffen rezykliert werden. Bild: sulzer.com

Das Segment Renewables, zu dem biobasierte Chemikalien, biobasierte Polymere, Polymerrecycling und Dekarbonisierung zählen, hat einen Anteil von 12% an der Division. Diese erfreut sich einer besonders lebhaften Kundennachfrage und dürfte mittelfristig deutlich an Gewicht gewinnen. Ein Paradebeispiel für den Ausbau des Bereichs bildet die Prozesstechnologie für die erste Polystyrol- und Polyolefin-Recyclinganlage des Entsorgungsunternehmens Indaver im belgischen Antwerpen. Diese «Plastics to Chemicals (P2C)»-Anlage wird der Umwelt Kunststoffabfälle ersparen und stattdessen 26’000 Tonnen pro Jahr an hochwertigen, gefragten Chemikalien erzeugen. Die Verhandlungen über weitere, grössere Projekte seien weit fortgeschritten.

Solide Zahlen auf Unternehmensebene

Der Anteil des bilanziellen Eigenkapitals ging per Mitte 2022 von 25,5% (31.12.2021) auf 21% zurück, wofür neben der Dividendenausschüttung von 3,50 CHF je Aktie auch die Wertberichtigungen aus der konsequenten Dekonsolidierung des Russland- und Polen-Geschäfts in Höhe von 133 Mio. CHF beitrugen. Diese Einmalaufwendungen sind auch schuld daran, dass statt eines Halbjahresgewinns von 61 Mio. CHF wie im Jahr davor nun ein Verlust von 49 Mio. CHF in den Büchern erscheint. Ohne «Russland-Effekt» wäre die Umsatzrendite höher als die vorjährigen 6,5% ausgefallen. Neben dem Ukrainekrieg und den gegen Russland verhängten Sanktionen sorgen auch die radikalen COVID-Lockdowns in China für Lieferverzögerungen bei Roh- und Vorprodukten. Der Auftragseingang auf Basis der Q3/2022-Zahlen legt ein Jahreswachstum von ca. 10% nahe – und damit deutlich über den noch im Frühjahr konservativ vom Unternehmen als Ziel postulierten 3-5% Wachstum. Wachstumstreiber sind vor allem die Bereiche Flow Equipment und Chemtech.

Auf den von Februar 2021 bis Oktober 2022 amtierenden CEO Frédéric Lalanne folgte jüngst Suzanne Thoma, die weiteren Bedarf zur Prüfung und Neuausrichtung der Strategie sieht und ungenutzte Potenziale ausschöpfen will. Die Berufung der damaligen Verwaltungsrätin Thoma zum CEO der Gruppe trägt deren erfolgreicher Arbeit bei der Transformation der BKW AG Rechnung: Niemand wird versehentlich an die Spitze von Sulzer befördert. Im Gegensatz zu manch anderer Publikumsgesellschaft erfolgt der Umbau bei Sulzer aktiv und von langfristigen Überlegungen getragen, statt aufgrund eines wirtschaftlichen Druckes, der mit auslaufender Nachfrage nach bisweilen technologisch und gesellschaftlich überholten Produkten einhergeht.

Fazit

Dank eines aktuellen Auftragsbestands von knapp 2 Mrd. CHF hat Sulzer vorerst schon mit der bestehenden Strategie alle Hände voll zu tun. Bildet man die Erhöhung der operativen EBITDA-Margen in einer Umsatzrendite von 6,8% ab und rechnet noch eine leichte Steigerung des Halbjahresumsatzes von 1,52 Mrd. CHF hoch, so könnte der Jahresgewinn 2022 «ohne Russland-Effekt» bei rund 210-215 Mio. CHF oder 6,20 CHF je Aktie landen. Mit einem KGV von 12 und einer Dividendenrendite von 4,7% erscheint Sulzer für ein etabliertes Industrieunternehmen als günstig bewertet. Nimmt man ähnlich ESG-fokussierte Wachstumsunternehmen in die Vergleichsgruppe auf, eröffnet sich ein Nachholbedarf von 30-50%. Eine kleine, provokante Anregung gefällig? Zumindest gültig für den Bereich der Wasseraufbereitung: Evoqua Water Technologies wird mit dem 2,3-fachen Jahresumsatz und einem KGV 2022 von 57 bewertet.

Die Sulzer-Aktie hat sich von ihren Tiefstständen bereits wieder gelöst. Chart: money-net.ch

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