Im Brennpunkt: Actelion-Übernahmeversuch durch J&J wirft Licht auf hoch attraktive, doch unverstandene Biotech-Industrie der Schweiz

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Jean-Paul Clozel, CEO der erfolgreichen Biotechfirma Actelion. Bild: www.actelion.com
Jean-Paul Clozel, CEO der erfolgreichen Biotechfirma Actelion. Bild: www.actelion.com

Nach Serono scheint nun auch Actelion, die zweite grosse Erfolgsgeschichte der Biotechnologie in der Schweiz, durch eine Übernahme in die Hände eines ausländischen Pharma-Multis zu gelangen. Obwohl es schon mehrere Avancen gab, zuletzt 2015 durch die britische Shire, wirken die am vergangenen Freitag durch die Unternehmen bestätigten Gespräche über eine Akquisition von Actelion durch Johnson & Johnson ernsthaft.

Bisher hatte der Actelion CEO, Co-Gründer und Aktionär Jean-Paul Clozel, stets betont, dass Actelion plane, unabhängig zu bleiben. Mit einer Börsenbewertung von 17 Mrd. CHF, oder USD, schon vor Freitag vergangener Woche ist Actelion das grösste Biotech-Unternehmen Europas. Das Interesse an einer Übernahme durch J&J sowie die Bestätigung der Gespräche sorgten dann bei Actelion für einen Kursanstieg um 19%, den höchsten Kursgewinn seit dem Jahr des Börsengangs 2000. Die Börsenbewertung zum Handelsschluss am Freitag lag bei 19.9 Mrd. USD.

Actelion-Aktie mit 500% Performance seit 2012

Die Actelion-Aktie gehörte in den letzten fünf Jahren zu den Überfliegern im SPI (blaue Linie). Chart: www.moneynet.ch
Die Actelion-Aktie gehörte in den letzten fünf Jahren zu den Überfliegern im SPI (blaue Linie). Chart: www.moneynet.ch

Die Aktie hat somit seit 2012 von 30 CHF auf über 180 CHF um mehr als 500% zugelegt. CEO Clozel war klug, die Offerten der Vergangenheit als zu niedrig zu verwerfen, denn der aktuelle Kurs liegt weit höher. Sollten jetzt noch Sanofi und Novartis auch die Gelegenheit erkennen, ihre Produkt-Pipelines mit der Actelion-Akquisition aufzupeppen, ist auch ein Bieterkampf um die Trophäe, das teuerste Biotech-Unternehmen Europas, sehr wahrscheinlich. Die Angebote könnten dann ohne Weiteres bis 250 CHF je Aktie oder noch höher gehen. Während im langfristigen Mittel die Prämien bei Übernahmen bei 33% liegen, betragen diese im laufenden Jahr nur durchschnittlich 25%. Doch der Biotech-Sektor ist sehr speziell, weil es darum geht, weit in der Zukunft liegende Cashflows richtig oder falsch einzuschätzen und entsprechend zu diskontieren. Zudem sind die Prämien bei Übernahmeschlachten regelmässig signifikant höher und können auch bei 45% oder sogar 60% liegen.

Denn Actelion hat vielversprechende neue Medikamente in der Pipeline, vor allem gegen seltene Krankheiten, aber auch gegen Multiple Sklerose und Lupus. Die hohe Abhängigkeit vom Blockbuster „Tracleer“ gegen Bluthochdruck mit einem Umsatzanteil von über 50% endet mit der erfolgten Markteinführung von zwei neuen Medikamenten gegen Lungenkrankheiten, denen auf Jahre hin hohe Wachstumsraten prognostiziert werden. Der Patentschutz für Tracleer lief zudem bereits vor einem Jahr aus, schon ab dem ersten Quartal 2017 ist mit Generika und damit einem beschleunigten Umsatzzerfall bei Tracleer zu rechnen.

Kommt es zum Übernahme-Poker?

Ist ein Übernahmepreis von über 20 Mrd. CHF/USD angemessen angesichts von gerade 1.8 Mrd. CHF Umsatz in den ersten 9 Monaten 2016? Es kommt eben auf die Diskontierungssätze der neuen und zukünftigen Medikamenteneinführungen an. J&J ist mit über 300 Mrd. Börsenbewertung der grösste Healthcare-Konzern der Welt. Kontinuierlich werden die Pharmaumsätze ausgebaut und tragen heute mehr als der Hälfte zum Konzerngewinn bei, der sich 2015 auf 15.4 Mrd. USD belief. Nachdem Exxon das „Triple A-Rating“ verloren hat, ist nun nur noch Microsoft neben J&J in diesem exklusiven Club von Unternehmen allerhöchster Bonität vertreten.

Unterschätzte Schweizer Biotechnologie

Das Interesse internationaler Konzerne aus der Pharmabranche wirft Licht auf eine Industrie, die weltweit von amerikanischen Unternehmen dominiert wird – schon seit dem Börsengang von Genentech in den 80er-Jahren. Nach letzter Zählung macht der Börsenwert der US-Biotechs das 5.5fache des Rests der Welt aus. Doch die kleine Schweiz ist in dieser wissenschaftsgetriebenen nun nicht mehr ganz so jungen Industrie weit wichtiger, als dies den meisten Schweizern und Europäern augenscheinlich bekannt und bewusst ist.

So wurden laut Ernst & Young 2015 in Europa insgesamt 2.5 Mrd. USD an Venture Capital in Biotechnologieunternehmen investiert. Wenig überraschend liegen die Briten mit 884 Mio. USD an der Spitze, doch auf Position 2 folgt bereits die Schweiz mit 381 Mio. USD vor Deutschland mit lediglich 270 Mio. USD, weit vor Frankreich und Italien. Zu beachten ist, dass die Schweiz nur einen Zehntel der Bevölkerung Deutschlands hat. Zum Vergleich: In den USA wurden 11.8 Mrd. USD Venture Capital in den Biotech-Sektor investiert. Der 15-Jahres-Durchschnittswert beträgt 5.6 Mrd. USD.

Laut EY waren 2014 und 2015 Rekordjahre für die langfristig durch Boom-Bust-Zyklen gekennzeichnete Biotech-Industrie. Weltweit wurden 71 Mrd. USD an Kapital durch VC, IPOs, Secondary Offerings und einige Anleiheemissionen reiferer Biotechunternehmen von der Branche aufgenommen. Insgesamt entfielen 86% auf die USA. Auch der M&A-Markt entwickelte sich mit 90 Mrd. USD Biotech-Volumen positiv. 90% des Transaktionsvolumens oder 64 von 89 Transaktionen entfielen auf die USA.

Boomjahre 2014/2015

Vom IPO-Boom 2014/2015 profitierte die Schweizer Biotechnologie in mehrfacher Hinsicht. Zwar waren die Börsengänge an der SIX überschaubar, doch mit Molecular Partners und einem Emissionsertrag von 106.2 Mio. CHF im November 2014 sowie Cassiopea mit 175.6 CHF im Juli 2015 konnte die Schweizer Börse wichtige Signale aussenden. So verbesserten sich u.a. dadurch die Marktbedingungen auch für Secondary Offerings wie von Evolva mit 57.4 Mio. CHF und Santhera mit 54.8 Mio. CHF. Im Jahr 2014 entfielen 78% der Venture Capital Investitionen in der Schweiz auf den Life Sciences-Bereich, im wesentlichen Biotechnologie. 2015 war die 64 Mio. USD VC-Finanzierungsrunde bei der Basler Firma CRISPR Therapeutics die zweithöchste in der Schweiz. Anfang 2016 gingen dann zwei US-Wettbewerber erfolgreich an die NASDAQ, was CRISPR dann im Oktober dazu veranlasste, ebenfalls an die NASDAQ zu gehen, allerdings mit geringerem Emissionsertrag als geplant. Inzwischen ist die Aktie vom Emissionspreis von 15 USD auf 21 USD geklettert.

Selektive Berichterstattung schadet

Der Fall von CRISPR vermag ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, warum die Biotechnologie jenseits der Expertenzirkel von Wissenschaft, Venture Capital-Investoren und Pharma-Industrie kaum auf Verständnis stösst, was auch bedeutet, dass die immense Wertschöpfung der Industrie an den meisten Anlegern vorbeigeht. Die Industrie gibt sich meist elitär, was das Interesse der breiten Anlegerschaft nicht unbedingt fördert. Die Medien werden ihrer Informations- und Aufklärungspflicht gerade im Bereich Biotechnologie nicht gerecht. Unter buchstäblich Hunderten von Artikeln anlässlich des Börsengangs von CRISPR in deutscher und englischer Sprache hat scheinbar lediglich die NZZ den nicht unwesentlichen Fakt angeführt, dass die CRISPR-Cas9-Technologie in der Schweiz verboten ist, womit auch das Motiv für den Börsengang in den USA sehr viel verständlicher wird. Das sogenannte Gene-editing birgt zwar grosse Potenziale für Humantherapeutica, kann aber durch Bio-Hacker auch zur Massenvernichtungswaffe umfunktioniert werden. Die Technologie ist deshalb auch unter der Liste potenzieller Massenvernichtungswaffen geführt und unterliegt somit strengsten Sicherheitsanforderungen. Diese Fakten sind scheinbar kaum bekannt, weshalb sogar auf Öko-Websites positiv und unkritisch mit Blick auf die Steigerung von Ernteerträgen über CRISPR berichtet wird.

Gründe für die NASDAQ

Der Hauptgrund für nicht amerikanische Biotech-Unternehmen, an die NASDAQ zu gehen, statt die Aktien in Dublin, Frankfurt oder Zürich kotieren zu lassen, ist, dass vielfach die VC-Investoren überwiegend Amerikaner sind und die post-IPO-Anleger wie Life Sciences Investment Fonds oder sonstige institutionelle Anleger ebenfalls weit überwiegend in den USA beheimatet sind. Es ist ein geschlossenes System von der Gründung und ihrer Finanzierung über VC und IPO bis hin zu M&A-Transaktionen. Europäer, Israelis und Australier sind willkommen, doch nicht essenziell. Je nachdem kann es für Schweizer Biotechs einfach vorteilhafter sein, in den USA kotiert zu sein, weil es dort eine Peer-Group gibt, weil Kapitalerhöhungen einfacher sind, weil es mehr sachverständige Investoren und Fachmedien gibt u.v.a.m.

Doch kein Vorteil ohne entsprechendes Risiko. Das musste zuletzt AC Immune erfahren, die ebenfalls vor kurzem an die NASDAQ gegangen war. Hauptindikationsgebiet ist Alzheimer. Als nun der Pharma-Konzern Eli Lilly seinen Wirkstoffkandidaten nach enttäuschenden Ergebnissen der klinischen Studien in Phase II zurückzog, fielen die Lilly-Aktien und alle Alzheimer-Aktien dramatisch, AC Immune um 25%.

Der Kursverlauf der AC Immune-Aktie war seit dem IPO rückläufig. Chart: www.moneynet.ch
Der Kursverlauf der AC Immune-Aktie war seit dem IPO rückläufig. Chart: www.moneynet.ch

Das Besondere an der Biotechnologie ist, dass es im Lebenszyklus der Unternehmen viele Hindernisse und Rückschläge gibt, die sich bei kotierten Aktien eben auch im Kursverlauf niederschlagen. Langfristig jedoch, das zeigt das Beispiel der 1997 gegründeten Actelion, bietet kaum eine andere Industrie die Möglichkeiten, innerhalb von 20 Jahren ein Multi-Milliarden Unternehmen aufzubauen.

Gründe für die SIX und Standortvorteile

Und genau in diesem Bereich ist die Schweiz, wenn man es ökonomisch betrachtet, in der weltweit besten Position. Obwohl nur 0.1% der weltweiten Bevölkerung auf die Schweiz entfallen, hält sie mit einer Pharma-Handelsbilanz von positiven 37.5 Mrd. CHF (2012) die globale Spitzenposition, während hier die USA mit minus 22.5 Mrd. CHF eine negative Bilanz aufweisen. Auf Chemie, Pharma und Biotech entfallen 41% der Schweizer Exporte, vor Uhren, Maschinen und sonstigen Industrien. Dabei ist die Biotechnologie immer bedeutender geworden. Laut EY beheimatet die SIX 40% der Marktkapitalisierung der europäischen Life Sciences Industrie. 2015 betrug der Umsatz der Schweizer Biotech Untenehmen 5.1 Mrd. CHF, sie beschäftigen rund 15‘000 Mitarbeiter. Inzwischen sind es nahezu 300 Unternehmen. Bessere Voraussetzungen als in der Schweiz mit der Präsenz von über 700 internationalen Life Sciences-Konzernen dürften nur schwer zu finden sein.

2015 gab es laut dem Swiss Biotch Report 219 Biotechunternehmen in der Schweiz sowie 60 Zulieferer. Quelle: EY
2015 gab es laut dem Swiss Biotch Report 219 Biotechunternehmen in der Schweiz sowie 60 Zulieferer. Quelle: EY/Swiss Biotech Report 2016

Wünschenswert wäre eine bessere und für weite Anlegerkreise verständlichere Vermittlung der Spezifika der Industrie, so dass mehr Biotech-Unternehmen an die Heimatbörse gehen, weil die Anleger interessiert und involviert sind. Unvollständige Information oder nachlässige Berichterstattung der überfordert scheinenden Anlegermedien sind kontraproduktiv für diese insbesondere für die Schweiz so wichtige Schlüsselindustrie.

Wie Bloomberg am späten Dienstag MEZ berichtete, hat das Management von Actelion das Angebot in Höhe von 246 CHF je Aktie oder 26 Mrd. USD als zu niedrig verworfen. J&J habe ein höheres Angebot vorgelegt, über das nichts bekannt sei und das nicht bestätigt wurde. Die Aktie steht im späten Schweizer Handel bei 208 CHF.

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