„Kein rationales Argument wird einen rationalen Effekt auf einen Mann haben, der kein rationales Verhalten an den Tag legt.“ Karl Raimund Popper, 1902-1994, Philosoph und Begründer des Kritischen Rationalismus
Trotz einiger Schwächeanfälle am US-Aktienmarkt war doch eines bisher immer sicher: Die fast unheimliche Hausse der FAANG-Aktien würde es rausreissen und den Markt auf Kurs halten. Das galt zumindest bis vor kurzem. Doch inzwischen liegen alle FAANGs mit 16% bis 35% gegenüber ihren Höchstkursen im Minus! Ein unmissverständliches Signal.
Markttechnisches Bild erfährt Eintrübung
Zwar sollte man in die „Death Crosses“ der meisten FAANGs auch nicht zu viel hineininterpretieren, doch es wäre geradezu leichtsinnig, diese bewährten technischen Signale des Marktes einfach zu ignorieren. Als Death Cross wird bezeichnet, wenn die 50-Tages-Linie die 200-Tages-Linie von oben nach unten durchstösst. Nicht immer, aber sehr oft ist das Death Cross das Präliminarium zu weiteren Kursverlusten. Die negative Signalwirkung ist umso stärker, wenn sich die 200-Tages Linie bereits nach unten neigt.
Während sich das jeweilige Death Cross bei den Aktien von Alphabet (Google) und Netflix gerade bildet, sind Amazon und Apple davon noch entfernt. Sollten sich allerdings die aktuellen Trends fortsetzen, so ist es nur eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen.
Facebook im Abwärtssog
Bei Facebook dagegen trat das Death Cross bereits am 20. September bei einem Kurs von 166 USD ein. Das absolute Hoch hatte im Juli bei 217.50 USD gelegen. Hinweise auf eine zu erwartende Baisse hatte es allerdings schon davor gegeben. In der Macro Perspective vom 22. März 2018 zu den undemokratischen Umtrieben von Cambridge Analytica war die unrühmliche Rolle von Facebook und der Verlust von 50 Mrd. USD Market Cap hinreichend kritisch beleuchtet worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kurs der Aktie trotz dem erfolgten Kursrutsch immerhin noch 170 USD betragen. Die Wall Street Hausse hat die Facebook-Aktie trotz der bedenklichen Enthüllungen allerdings dann bis Juli nochmals kräftig nach oben getrieben.
Das Beispiel zeigt gut, wie sich der Indikator Death Cross bezahlt macht, vor allem, wenn die Aktie schon deutlich unter ihrem Hoch liegt. Es gibt zwar keinerlei empirischen Beweise oder eine stimmige Theorie dazu, aber heute gelten die willkürlich gezogenen Grenzen – 10% Minus sind eine Korrektur und 20% ein Bärenmarkt – allgemein als akzeptiert. Und wenn alle Marktteilnehmer genau diese Schwellenwerte fürchten und entsprechende Konsequenzen ziehen, so entwickeln diese Formeln zwangsläufig ein Eigenleben.
Kurs in USD 15.11.18 | Market Cap Mrd. USD | Performance 2018 | Kursrückgang vom Hoch | Maximaler draw-down | |
144 | 414 | -18.10% | -34.10% | -36.40% | |
Apple | 191 | 886 | 13.30% | -18.20% | -20% |
Amazon | 1 620 | 782 | 43.30% | -21% | -25.40% |
Netflix | 290 | 125 | 51.20% | -31.40% | -32.90% |
1 064 | 729 | 1.70% | -16.50% | -20% | |
S&P 500 | 2 730 | 2% | -7.20% | -10.20% | |
Nasdaq | 7 270 | 5.40% | -10.60% | -13.30% |
Marktführer mit Schwächeanfällen
Das ist im gegebenen Zusammenhang allerdings nur ein Nebenaspekt. Im Vordergrund steht das „Big Picture“ der amerikanischen Aktienmärkte. Die FAANG-Aktien mit einem gemeinsamen aktuellen Börsenwert von fast drei Billionen USD haben sich über die gesamte Hausse als Taktgeber und Zugpferde erwiesen. Apple, Amazon und Google von Anfang an, Facebook und Netflix stiessen erst später dazu.
Wenn nun die unbestrittenen Marktführer nacheinander in die Knie gehen, ist das die letzte Bestätigung, dass der längste Bullenmarkt der Wall Street nun zu Ende geht. Auf diesen Lauf der Dinge war in der Macro Perspective in den letzten 12 Monaten immer wieder hingewiesen worden. Die Gesamtverfassung der Aktienmärkte hat sich zuletzt wenig inspirierend dargestellt. Es gab immer weniger Aktien, die für neue Hochs sorgten, und die Small- und Mid-Caps hatten, typisch für die späte Phase eines Bullenmarktes, die Large Cap Indizes outperformed. Inzwischen jedoch zeigt auch der Russell 2000 Index deutliche Schwächezeichen. Seit September fiel der Index von 1’742 Punkten auf weniger als 1’500 Punkte und erholte sich danach nur geringfügig. Damit sind die zeitweiligen Divergenzen der unterschiedlichen Marktsegmente wieder aufgehoben – die Bewegungen verlaufen fast synchron.
Fall-out auch in der Schweiz
Da die US-Märkte immer auch Leitbörsen für den Rest der Welt sind, ist der Fall-out vielerorts zu spüren. Nicht nur in den Emerging Markets, die vor allem unter den tendenziell steigenden Dollarzinsen und dem erstarkten USD leiden, sondern auch in der EU und der Schweiz. Besonders offensichtlich ist das beim deutschen Barometer DAX. Während die US-Leitindizes seit Jahresbeginn immerhin noch leicht im Plus liegen, verzeichnet der DAX ein Minus von 12,2%. In der Schweiz kommt einem sofort die SNB in den Sinn, die zu den grossen Investoren in FAANG-Aktien zählt. Nach den aussergewöhnlichen Gewinnen bis Mitte Jahr dürften im zweiten Halbjahr soweit die Verluste überwiegen. Auch die schnellen und schmerzhaften Kursverluste bei Schweizer Wachstumsaktien wie Bossard und Comet werden durch das Kursgeschehen in New York beschleunigt. Ein besonders extremer Fall ist die an der SIX gehandelte Aktie des österreichischen Apple-Zulieferers AMS, die um rund 80% unter ihrem Hoch liegt.
Gewinngigant Apple
Betrachtet man sich die FAANGs im Einzelnen, so gibt es zahlreiche Faktoren, die zu beachten sind. Wie begründet die Skepsis mit Blick auf die jeweils zu erwartenden weiteren Wachstumsraten ist, zeigen die Charts. Apple ist zwar in kompetitiven Märkten aktiv, und angesichts der erreichten Umsatzgrösse ist es auch schwierig, weiterhin zweistellige Zuwächse zu erreichen, doch Apple ist bei der Betrachtung des Gewinns eine Klasse für sich. 59.5 Mrd. USD Reingewinn im Geschäftsjahr per Ende September 2018 entsprechen 22,4% Nettoumsatzrendite. Das KGV beträgt somit nur 14,9! Wenn auch zu erwarten ist, dass es bei Apple auch mal wieder schwächere Jahre gibt, wie 2016, als Umsatz und Gewinn sogar rückläufig waren und sich 2017 nur mässig erholten, so belief sich der Gewinn in diesen beiden Jahren dennoch auf imposante 45.7 Mrd. USD und 48.4 Mrd. USD. Die Marke ist und bleibt mit Abstand die wertvollste der Welt!. CEO Cook macht zudem einen sehr guten Job. Er hat mehr Marktwert für Aktionäre geschaffen als irgendein anderer CEO, abgesehen von Jeff Bezos. Der Burggraben um Apple ist tief und breit. Auch Warren Buffett hat sich nennenswert an Apple beteiligt.
Amazon mit beschleunigten Wachstumsraten
Bei Amazon beschleunigt sich dagegen die Wachstumsrate mit zunehmender Grösse, was Lehrbuchmeinungen auf den Kopf stellt. 2014 hatte das Umsatzwachstum 19,5% betragen, 2017 schon 30,8%. Amazon geht ständig neue Geschäftsfelder an – und das meist erfolgreich. Der ausgewiesene Gewinn sagt wegen der hohen Investitionen wenig, folglich auch das KGV, das bei fast 90 liegt. Die bessere Messgrösse ist das EBITDA, das sich von 4.5 Mrd. USD in 2014 mit Steigerungsraten von 79%, 47% und 28,9% auf 15.3 Mrd. USD mehr als verdreifacht hat. Die EBITDA-Marge ist mit 8,6% für ein Einzelhandelsunternehmen beeindruckend hoch. Dennoch könnte die Aktie auch eine zeitweilige Korrektur erfahren. Anfällig ist Amazon durch die schiere Grösse. Der „Category Killer“ ist verstärkt die Zielscheibe von Wettbewerbern, die aufgrund der monopolartigen Stellung eine Zerschlagung fordern. In den Vor-TrumpZeiten wurde ein solches Ansinnen nie ernsthaft erwogen, obwohl es durchaus Ansatzpunkte gibt. Doch Trump hat neben vielen anderen Lieblingsfeinden auch Amazon und insbesondere Jeff Bezos dazu erkoren. Viel Feind, viel Ehr! Auch wenn entsprechende Schritte kurzfristig nicht zu erwarten sind, der Konflikt schwelt. Ganz aktuell wurde von Bezos diese Aussage gegenüber dem Amazon-Management bekannt: “Amazon is not too big to fail … In fact, I predict one day Amazon will fail. Amazon will go bankrupt. If you look at large companies, their lifespans tend to be 30-plus years, not a hundred-plus years.“ Das sollten auch Investoren in ihre Entscheidungen miteinbeziehen.
Gegenwind für Datenkraken
Sehr viel kritischer ist die Lage bei den Datenkraken Facebook und Google zu sehen. Durch die zahlreichen und wiederholten Daten-Leaks und -Breaches sind nicht nur die Kunden, die User genannt werden, zunehmend beunruhigt, sondern auch Regierungen, NGOs, Regulatoren und Datenschützer. Das hat sich bereits in der seit kurzem gültigen Datenschutzverordnung der EU niedergeschlagen, die überraschend scharf für die amerikanischen High-Tech-Grössen abgefasst ist. Die Amerikaner ziehen nach.
Komplize bei Wahlmanipulation
Im Rückblick betrachtet auf Basis der Informationen, die heute vorliegen, wird die weitere Problematik insbesondere bei Facebook allmählich denen, die für die Einhaltung demokratischer Spielregeln verantwortlich sind und noch kritisch reflektieren können, zunehmend klar. Ohne Facebook und Cambridge Analytica wäre wohl das Brexit-Referendum anders ausgefallen. Tatsächlich sind angesichts des politischen Desasters die Stimmen, die ein zweites Referendum fordern, nie lauter gewesen. In den USA wäre die Präsidentenwahl ebenfalls anders ausgegangen, denn obwohl Hillary Clinton deutlich mehr Wahlstimmen hatte, wurde durch das Targeting der Wahlkreise, in denen die entscheidenden Stimmen der Wahlmänner zu holen waren, die Wahl beeinflusst. Auch die russischen Versuche zur Manipulation der Präsidentenwahl wären ohne Facebook nicht möglich gewesen. Bei den Hearings dazu machte „Zuck“ einen ganz schlechten Eindruck, als ob er nichts davon wusste und dann sofort aktiv wurde. Das Muster setzt sich bis in die jüngste Gegenwart fort.
Unlautere Machenschaften zur Ablenkung
Am 14. November veröffentliche die New York Times einen Artikel, der überschrieben ist mit: Verneinen, Verzögern, Ablenken – Wie die Führer von Facebook sich durch die Krise kämpften. Darin wird minutiös durch belastbare Quellen aufgedeckt, wie selbst degoutante Schmierkampagnen gegen Apple-CEO Cook und gegen den durch seine Stiftungen für die offene Gesellschaft wirkenden George Soros als probate Mittel angesehen werden. Es ist brechreizerregend. Mindestens genau übel, aber in der Konsequenz sehr viel grausamer ist das jahrelange Tolerieren von „Hate Posts“ in Myanmar. Wie Reuters in der Special Investigation „Hatebook“ aufgedeckt hat, wurde Facebook über den Zeitraum von sechs Jahren trotz vieler Hinweise nicht aktiv und liess Mordaufrufe gegen die Rohingya unkommentiert stehen. Die Folgen sind bekannt, wenngleich sich in Europa kaum jemand über den angekündigten Genozid aufregt.
Der Präsident als Vorbild
Somit zeigt sich, dass bei den börsenrelevanten Informationen genau wie bei den politischen „fake-news“ Ablenkungsmanöver und Camouflage inzwischen etabliert sind. Das macht es Wählern wie Anlegern mitunter schwer, den Blick fürs Wesentliche, für richtig und falsch, gut und schlecht nicht zu verlieren. Der Präsident der USA ist allerdings ein denkbar schlechtes Beispiel. Seine „alternativen Fakten“ beinhalten selbst gefälschte Videos in seinem Krieg gegen die Medien. So wurde aus einer harmlosen zufälligen Berührung bei einer Pressekonferenz ein Handkantenschlag „gefaked“. Die NZZ berichtete informativ darüber, die Trump-Begeisterung scheint allmählich einer realistischen Einschätzung zu weichen.
Autoritäre Tendenzen
Beim Phänomen Trump gilt es jedoch, jederzeit das grosse Bild im Auge zu behalten. Kaum waren die Mid-Term Elections entschieden, so unterstellte der Präsident schon Wahlbetrug, weil die Demokraten die Mehrheit im Kongress errungen haben. Er kann nicht verlieren. Nur seine Sicht ist gültig, wer nicht spurt, wird ausgetauscht, wie zuletzt Justizminister Jeff Sessions. Die Stimmen mehren sich, die darin einen Ausdruck von autoritären und faschistischen Tendenzen sehen. Die Entmenschlichung der Opposition, der Presse, der Afro-Amerikaner usw., das Klima der Angst und vieles mehr passen durchaus ins Bild.
Warum der Hausse die Luft ausgeht
Die Börse kann sich nicht dauerhaft von dem politischen Weltgeschehen abkoppeln, sofern die Bedingungen wirtschaftlichen Handelns betroffen sind. Dazu zählen die Aufkündigungen von Handelsabkommen und die Einführung von Zöllen. Der Fall-out zeigt sich bereits in weiter abgebremsten Wachstumsraten in China – und entsprechenden Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Märkte, seien es Rohstoffe wie Öl und Kupfer oder der Investitionsgütermarkt. Nicht zuletzt sind amerikanische Unternehmen wie Apple und deren internationale Zulieferer betroffen.
Der Fall Kashoggi und der Thronfolger
Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass der „Fall Kashoggi“, Gegenstand der letzten Macro Perspective, inzwischen weite Kreise gezogen hat. Auffällig ist, dass die internationale Berichterstattung für lange Zeit sehr zurückhaltend war, wies doch Trump immer wieder auf das hohe Geschäftsvolumen zwischen den beiden Ländern hin und darauf, dass es ein Alliierter im Nahen Osten ist, vor allem gegen den Iran. Natürlich war dem sehr gemessenen Informationsfluss des türkischen Präsidenten Erdogan auch zu misstrauen, der sich in einer selbstgemachten Krise befindet, siehe Macro Perspective vom August 2018 und vom August 2016.
CIA hält Thonfolger für verantwortlich
Doch nach und nach kamen die unappetitlichen Details ans Tageslicht, die von unterschiedlichen Quellen, u.a. dem kanadischen Geheimdienst, bestätigt wurden. Die widersprüchlichen Versionen der Saudis, die den Fall verdunkeln sollten, bewirkten das Gegenteil. Inzwischen sollen die Köpfe von fünf Verantwortlichen rollen, doch der Thronfolger weiss immer noch von gar nichts. Selbst die CIA kam zuletzt zu dem Schluss, dass der Thronfolger der Urheber ist. Das war allerdings nicht mit Trump abgestimmt! Ein weiteres Zeichen für den Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem „Deep State“, den er bekämpft.
Implikationen
Tatsache ist, dass eine Welt voller Nationalismen und restaurativer Bewegungen und Parteien nur zu Polarisierung führt. Wenn dann noch die vorherrschende Supermacht unkalkulierbar und unzuverlässig wird, ist die Prognose leider nicht sonderlich erbaulich. Der Moment der Wahrheit kommt, wenn die Party vorbei ist, das heisst, dass der mit tiefen Zinsen erkaufte künstliche Boom zu Ende sein wird und die Wirtschaft stottert. Die heute von Populisten gestreute Angst soll dann deren Triumph sicherstellen. Daher sollte zur Sicherung der Demokratie der Satz von Popper sehr ernst genommen werden: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“